Penelopes Heimkehr
Nun bin ich also wieder auf der Fähre – nach 20 Jahren.Eigentlich wollte ich dich damals nur ein paar Wochen vertreten, aber dann war alles anders gekommen. Du hast mich in ein anderes Leben geschickt, und es hat mich wie auf einer Welle weit, weit weg getragen und um die ganze Welt geschickt.
Vor 20 Jahren hättest du, Odysseus, als Bürgermeister von Ithaka eine Rede vor dem Regionalrat halten sollen. Aber dir war Politik im Grunde schnurz egal und du hast dich geweigert, deine Insel zu verlassen; dir gefiel es, dich als Inselfürst zu geben, in allen Dörfern gegrüßt und zu Kaffees oder Ouzo eingeladen zu werden. Du ließt dich gerne zu Trauzeugen und Taufpaten machen, wo du tanzen, singen und Nächte lang feiern konntest.
Aber in öden Sitzungen oder Versammlungen deine Zeit zu verschwenden, das gefiel dir nicht.
Also hast du mich gebeten, die Reise nach Athen für dich zu machen. Wir hatten ja schon ein Kindermädchen für Telemach, wie es sich für Kinder aus besserem Hause gehörte. Und ich langweilte mich auf der kleinen Insel; bei dem Gedanken an die schicken Shops von Athen und neue Aufgaben war ich durchaus bereit, euch für eine Sitzungsperiode zu verlassen.
Außerdem gingen mir deine zahlreichen Flirtversuche mit den Inselschönheiten auf die Nerven, da war es mir lieber, ich bekam es nicht mit.
Der Abschied von Telemach fiel mir schwer, denn gerade hatte er gelernt, meinen Namen richtig zu sprechen; doch du warst – und bist es geblieben - ein rührender Vater, das neue Mädchen schien tüchtig und konsequent; und im Notfall war ja noch die alte Hebamme da, die schon uns beide auf die Welt gebracht hatte.
Als die Insel damals hinter dem Horizont verschwand, habe ich mich der Arbeit zugewandt; las die internationale Presse, googelte alte Verträge, und befasste sich mit der wirtschaftlichen Gesamtlage und Möglichkeiten, das marode Staatssystem zu reformieren.
Je tiefer ich in die Materie einstieg, desto mehr war ich erschüttert, welche groben Fehler in der Vergangenheit gemacht worden waren.
Ich engagierte und begeisterte mich immer mehr, ließ mich in Gremien wählen und machte gute Lobbyarbeit. Gelder flossen zu den ionischen Inseln und nach Ithaka. Dir war das recht und du hast mich für meine Arbeit sehr gelobt.
Wochen vergingen so und Monate – wir haben telefoniert und gemailt. Zuhause lief alles gut, das hast du mir immer wieder versichert.
Ob du mich vermissst hast, hast du nicht gesagt. Und ich habe das Thema auch nicht angesprochen.
Aus den Monaten wurden Jahre, erst wurde ich Abgeordnete in Brüssel und dann wechselte ich zur UN.
Ich bin eine Frau von Welt geworden, die mit Politikern dinierte und mit Industriellen die Wochenenden auf Yachten und in möndänen Skieressorts verbrachte. Ich habe es genossen, wichtig zu sein, und geglaubt, dass ich etwas bewegen und verändern kann in der Welt.
Immer wenn ich wieder nach Hause wollte, gab es irgendwo eine neue Krise, war eine Rede zu halten oder persönlich Stellung zu nehmen, und so verging die Zeit.
Wir haben sie vergehen lassen.
Und du, Odysseus, hast mir mails geschickt, Fotos von Telemachs Einschulung und seinen Klassenfahrten. Nachdem ich dir eine Webcam gekauft hatte, gab es auch regelmäßig Videos: Telemach beim Schwimmen, beim Segeln oder wie du ihm Reiten und Bogenschießen beibringst.
Wie es uns geht, haben wir nicht gefragt.
Nun bin ich wirklich auf dem Weg zu euch, fast kann ich es nicht glauben.
Auch das zwei Wochen zu spät, weil ich Zwischenhalte in Stockholm und Berlin machen musste, dann streikten die Fluglotsen in Paris, in Athen bekam ich kein Taxi – es fehlte nur, dass ich mit einem Eselskarren zur Fähre gebracht wurde. Wo ist eigentlich das ganze EU-Geld hingeflossen, das ich erstritten habe?
Schon tragen mich wieder die heimischen Gewässer, im milchigen Licht des Morgens, das alle Konturen so weich macht, gleitet mein Auge die vertrauten Küsten entlang.
Und ich spreche mit dir, Odysseus, so wie ich es all die Jahre tat - nicht immer, aber oft, wenn ich zum Nachdenken kam und zum Erinnern.
Natürlich sind es Selbstgespräche, aber ich führe sie lieber mit dir.
Nein, ich mache mir nichts vor, und dir auch nicht, aus Liebe spreche ich nicht mit dir, wie sollte sie nach all den Jahren noch da sein – eher aus Gewohnheit, oder aus einer liebevollen Vertrautheit. Kein Mann, kein Mensch hat mein Leben so begleitet wie du.
Jetzt sehe ich die Umrisse von Ithaka, meiner Heimat.
Im zarten Dunst über dem Wasser scheint es zu schweben, wie eine Illusion aus Wasser, Hitze und Traum.
Mein Zuhause ist es nicht mehr – schon lange nicht mehr. Und es ist auch keine Heimkehr, die ich geplant habe - ich will nicht bleiben.
Es wartet viel Arbeit auf mich, an anderen Orten, Außerdem fürchte ich mich ein wenig vor der Inselenge, die mir schon damals oft die Luft zum atmen nahm.
Ich komme nur zu Besuch, zur Hochzeit meines Sohnes.
Telemach wird heiraten, hast du geschrieben. Ist er schon so alt? habe ich gedacht, als ich deine mail las.
Aber ja, er ist ein stattlicher junger Mann geworden. Er heiratet kein Mädchen aus Ithaka, die Zeiten sind vorbei. Eine blonde Schwedin, die er bei ihrem Urlaub kennen gelernt hat.
Ob sie sich auch das erste Mal am Meer geliebt haben wie wir?
Du, braun gebrannt, muskulös und mit hellen Fältchen um die Augen – wie hätte ich dir widerstehen sollen – obwohl mich alle vor dir gewarnt haben.
Aber mit mir du hast es ernst gemeint, so ernst, dass unsere Eltern in die Heirat einwilligten und uns eine herrliche Hochzeit bereiteten.
War das ein Fest! Du hast getanzt und gesungen, und unter den Tisch getrunken hast du alle.
Und du hast dein Versprechen wahr gemacht und wirklich unser Ehebett selbst gezimmert, aus dem alten Olivenstamm aus dem Garten deines Großvaters. Ich sehe dich vor mir, schweißgebadet und stolz.
Eines wenig bang ist mir schon, jetzt, wo die Fähre im Hafen einfährt. Um mich herum drängen sich Touristen mit Koffern, übernächtigt und sonnenhungrig – wie ich sind sie Fremde, aber sie dürfen es auch sein.
Werdet ihr mich erkennen? Ich euch?
Ich habe dir nicht gesimst, wie du es wolltest, wann ich ankomme – ich will allein über die Insel fahren, ich brauche die Zeit, um wenigstens ein bißchen bei euch anzukommen. Du würdest womöglich die freiwillige Feuerwehr am Landungssteg einen Marsch spielen lassen und hättest mich mit fähnchenschwenkenden Menschen begrüßen wollen – ganz der Inselfürst!
Ich aber will die bunten Häuschen still begrüßen, die wie Bonbons aus der Tasche eines Kindes an die Hänge der Bucht gefallen scheinen.
Allein und unbemerkt will ich durch die Gassen von Vathi streifen und sehen, was ich noch kenne. Meinen Koffer lasse ich an der Fährstation, den kann später jemand abholen.
Die Souvenirläden und Buden mit billigem Kram, mit denen man den Touristen das Geld aus der Tasche locken will, passiere ich schnell.
Hinauf zur Kirche will ich, in der wir unsere Hochzeitskränze verbunden bekamen...dein Blick damals, Odysseus, ich habe ihn nicht vergessen!
Mir ist heiß, mein Lieber, ich bin eure Hitze nicht mehr gewohnt, zu lange habe ich in klimatisierten Konferenz- und Hotelzimmern gelebt.
Also steige ich hinab zum kleinen Strand hinter dem Zypressenwäldchen – ob er auch bestückt mit Sonnenliegen und –Schirmen ist und einer Strandbar mit Partymusik?
Nein, es ist still bis auf Zikadengezirpe, und vom Meer kommt ein leichter Wind mit dem herben Duft von Thymian. Ich atme tief ein und beginne zu laufen, hinunter, zu unserem Strand. Alles wie früher, die alten Bäume, die Stille, die Steine...
Ich bin gerührt, Odysseus, ich weiß nicht, warum. So viele Strände habe ich gesehen, schönere, mit weichem Sand und Palmen – aber dieser hier, der Strand, an dem wir vor so langer Zeit unsere glücklichsten Stunden verbracht haben, der rührt jetzt mein Herz.
Ich muss schwimmen, ich ziehe mein Kleid aus, werfe alles auf den kleinen Felsen und springe nackt ins Wasser... oh, ist das herrlich!
Ich tauche und schwimme weit hinaus, lasse mich treiben...
Ob du lachen würdest, wenn du mich jetzt sehen könntest?
Vom Meer aus habe ich den schönsten Blick auf die Insel.
Oben, zwischen den Zypressen, kann ich unser Haus sehen, weiß strahlt es in der Sonne aus dem tiefen Grün. Da muss ich nun hin, zu dir, zu Telemach, zu meinem alten Leben.
Aber wie soll ich euch begegnen?
Da sitzt jetzt jemand am Felsen, ich erkenne die Gestalt eines Mannes – wie peinlich, Odysseus, dass mir das geschieht, nun muss ich einem Fremden zurufen und ihn bitten, sich zu verziehen, damit ich nackt aus dem Wasser steigen und mich anziehen kann...
oh nein, jetzt zieht er sich auch aus und steigt ins Wasser...
... er hat graues Haar, er ist braun gebrannt ...
er schwimmt auf mich zu...
das ist doch unmöglich, Odysseus, Odysseus, das bist du!
Ithaka
Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Die Lästrygonen und Zyklopen,
den zornigen Poseidon fürchte nicht,
solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden,
wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle
Regung deinen Geist und Körper anrührt.
Den Lästrygonen und Zyklopen,
dem wütenden Poseidon wirst du nicht begegnen,
falls du sie nicht in deiner Seele mit dir trägst,
falls deine Seele sie nicht vor dir aufbaut.
Wünsch dir eine lange Fahrt.
Der Sommermorgen möchten viele sein,
da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit!
In nie zuvor gesehene Häfen einfährst;
Halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier
Und erwirb die schönen Waren,
Perlmutter und Korallen, Bernstein, Ebenholz
Und erregende Essenzen aller Art,
so reichlich du vermagst, erregende Essenzen,
besuche viele Städte in Ägypten,
damit du von den Eingeweihten lernst und wieder lernst.
Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
Und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.
Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.
Nun hat es dir nicht mehr zu geben.
Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht.
So weise, wie du wurdest, in solchem Maße erfahren,
wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten.
Gedicht von Konstantinos Kavafis
*29.April 1863 in Alexandria/Ägypten, +29.April 1933 in Alexandria/Ägypten
Übersetzt von Wolfgang Josing und Doris Gundert
©tangocleo 2011