Sommerhitze
7. Juli 1941Endlich hielt der Zug. Arthur hatte auch die letzten Stunden der Fahrt verschlafen und wurde vom Quietschen der Bremsen geweckt. Viel hatte er unterwegs nicht gesehen, aber es hätte ihm wohl auch nichts gesagt. Die wenigen Astlöcher in den Viehwaggons waren von Erwachsenen belegt und wurden rabiat verteidigt. Ein achtjähriger Junge hatte keine Chance in diesem Kampf. Die meisten der Großen lagen allerdings apathisch kreuz und quer neben- und übereinander. Manche von ihnen, besonders die älteren, weinten oder beteten. Gesprochen wurde nicht.
Draußen war jetzt eine schneidende Stimme zu hören, dann ein metallisches Klacken. Die Schiebetür wurde geöffnet, unbarmherzig gleißendes Licht drang herein und ließ die Menschen im Waggon sich wie Küchenschaben noch weiter gegen die Rückwand drängen. In der hellen Öffnung erschien die Silhouette eines Mannes, der laut, aber freundlich verkündete: „Sie haben Ihre letzte Station erreicht, meine Herrschaften. Ich bitte Sie, meinen Kollegen zu folgen. Sie werden sie zu Ihren endgültigen Unterkünften begleiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“
Im Wagen war jetzt von allen Seiten ein lautes Schluchzen zu hören. Die ersten Mitfahrer wurden von den plötzlich nicht mehr freundlichen Kollegen des Schattenmannes mit Gummiknüppeln aus dem Waggon getrieben. Arthur verstand nicht was vorging und bekam Angst. Er klammerte sich fest an den Pappkoffer mit den Spielsachen und Büchern, die er für diese Reise hatte einpacken dürfen.
Auf dem festen Erdboden angekommen wagte er es, den Brief aus dem Koffer zu nehmen, den sein Vater ihm mitgegeben hatte. Arthur hatte ihm schwören müssen, ihn erst am Ziel zu öffnen. Er las:
„Lieber Arthur!
Deine Mutter und ich haben alles versucht, Dir diese Reise zu ersparen. Dafür haben wir all unsere Ersparnisse, das Haus, ja selbst unseren Hausrat weggeben müssen. Oma Grete, Onkel Paul und Tante Brömmel, sogar die Wiechmanns haben alles hergegeben, was sie besaßen, um uns immer wieder ein paar weitere Tage mit Dir zu erkaufen. Jetzt war nichts mehr da und Du bist nun auf Dich allein gestellt. Wir können Dir nicht mehr helfen, so sehr wir uns das auch wünschen.
Glaube Deiner Mutter und mir, daß es uns das Herz gebrochen hat, dich gehen lassen zu müssen. Vor allem aber glaube uns, daß wir niemals damit gerechnet hätten, daß auch Achteljuden umgesiedelt werden, wenn sie dunkle Haare und eine gebogene Nase haben.
In Liebe,
Vater“
Als Arthur von dem Brief aufsah, stieg eine häßliche schwarze Wolke aus dem Kamin, der das Gelände überragte.
7. Juli 2041
Endlich hielt der klapprige Wagen. Jonas war auf den letzten Kilometern doch eingeschlafen und wurde von seiner Mutter geweckt. Viel hatte er unterwegs nicht gesehen, aber es wurde auch schon langsam dunkel. Jonas hätte gerne mit seinem Taschencomputer gespielt, das hatten seine Eltern ihm aber verboten. Normalerweise half ein wenig Quengeln, aber an der Art, wie sein Vater es gesagt hatte, merkte Jonas, dass er in diesem Kampf keine Chance hatte. Seine Mutter starrte abwesend durch das Seitenfenster, sein Vater schien sich völlig auf die Straße konzentrieren zu müssen. Ein paar mal hatte Jonas den Eindruck, dass seine Mutter weinte. Gesprochen wurde nicht.
Draußen war jetzt eine schrille Stimme zu hören, dann ein metallisches Klacken. Die Wagentür wurde geöffnet, die unbarmherzige Hitze des Sommers drang in das Auto und nahm den Insassen für einen Augenblick den Atem. In der Türöffnung erschien die Sihouette einer Frau, die Jonas ein wenig kreischend, aber freundlich begrüßte: „Hallo Jonas, wir haben dich schon erwartet, da bist du ja endlich. Fräulein Leyen kommt jeden Moment und wird dir dein Zimmer zeigen. Ich bin sicher, du wirst dich bei uns wohlfühlen.“
Im Wagen war jetzt lautes Schluchzen zu hören. Nach einigen Augenblicken kam Fräulein Leyen und herrschte Jonas an, endlich auszusteigen. Seine Eltern blieben wie versteinert sitzen. Jonas verstand nicht was vorging und bekam Angst. Er klammerte sich fest an den Pappkoffer mit den Spielsachen und Büchern, die er für diese Reise hatte einpacken dürfen.
Im festen Griff Fräulein Leyens wagte er es, den Brief aus dem Koffer zu nehmen, den sein Vater ihm mitgegeben hatte. Jonas hatte ihm schwören müssen, ihn erst am Ziel zu öffnen. Er las:
„Lieber Jonas!
Deine Mutter und ich haben alles versucht, dir diese Reise zu ersparen. Dafür haben wir all unsere Ersparnisse, das Haus, ja selbst unser Auto weggeben müssen. Oma Grete, Onkel Paul und Tante Brömmel, sogar die Wiechmanns haben alles hergegeben, was sie besaßen, um uns immer wieder ein paar weitere Tage mit dir zu erkaufen. Jetzt war nichts mehr da und du bist nun auf dich allein gestellt. Wir können dir nicht mehr helfen, so sehr wir uns das auch wünschen.
Glaube deiner Mutter und mir, dass es uns das Herz gebrochen hat, dich gehen lassen zu müssen. Vor allem aber glaube uns, dass wir niemals damit gerechnet hätten, dass keine Krankenkasse und keine Versicherung mehr für Mukoviszidosekranke aufkommt, die unter zwanzig Jahre alt sind.
In Liebe,
Vater“
Als Jonas von dem Brief aufsah, fiel sein Blick auf ein hässliches schwarzes Schild, auf dem das Wort 'Kinderhospiz' zu lesen war.
7. Juli 2011
Der Deutsche Bundestag beschließt im Interesse der Medizinindustrie und trotz der in den USA bereits mit sozialer Euthanasie gemachten Erfahrungen, die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland zu erlauben.