Die Leiden der Frau Hauihrsmaultot
Täglich konnte man sie sehen. Die Frau ohne Alter, mit den Unterarmen auf das selbstgehäkelte Kissen gestützt, das auf dem Fensterrahmen zum Schutz gegen unangenehme Druckstellen lag. Die wabbeligen Oberarme, die aus den kurzen Ärmeln ihrer Kittelschürze Anno 1973 hervorlugten, trugen den Kopf ohne Hals. Die mausgrauen, spärlichen Haare waren vermutlich mit den blassrosa Lockenwicklern bereits verwachsen und wirkten eher wie interstellare Zeittunnel, als Haarverformungsinstrumente.Auch heute ging sie ihrer Tätigkeit nach, den Menschen ihres Umfeldes das Leben schwer zu machen. Mit voller Inbrunst ging sie diesem Hobby nach, ja, betrachtete sie dies doch als Dienst an der Gesellschaft. Da ihre Wohnung günstiger weise im Erdgeschoß lag, hatte sie die vollkommene Kontrolle über sämtliche Ein- und Ausgänge im Haus. Als Buchhalterin beschrieb sie sich oft, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde. Schließlich tat sie dies doch auch. Penibel hielt sie fest, wer wann mit wem das Haus betrat und verließ. Sie ließ es sich ebenfalls nicht nehmen zu kontrollieren, ob ihre Mitbewohner den Müll auch richtig trennten. Abends, wenn es dunkel wurde, grabschte sie nach ihrer starken Stabtaschenlampe, die sie praktischerweise zwischen ihre künstlichen Kauleisten quetschen konnte, um im hellen Lichtstrahl die verknoteten Müllbeutel in der Tonne wieder aufzureißen. Seit sie einmal bei dieser umwelttechnischen Sortierungsmaßnahme erwischt wurde, verknoteten und verschnürten die Mieter ihre Mülltüten akribisch. Sie konnte das gar nicht verstehen, weshalb ihre Mitmenschen ihr die Arbeit so erschwerten.
Sie wurde wieder belohnt, als sie die braune Tüte aufriss, die nur von der blonden, vollbusigen Oberweitengewichtstemmerin aus dem dritten Stock stammen konnte. Die Tüten von dieser lispelnden Schönheit waren entweder braun, schwarz-blau gescheckt oder die rot-orangenen trugen die Aufschrift „Sex up your life“. Frau Hauihrsmaultot interpretierte dies mit ihrem Nichtschulenglisch, damals zu ihrer Zeit gab es noch keinen Englischunterricht in der Volksschule, dass also ab Sechs Uhr das Leben beginnt. Das konnte auch passen, denn bei der Blondine ging es meist abends hoch her. Natürlich störte sich Frau Hauihrsmaultot keineswegs an der Klingelei an ihrer eigenen Tür durch die zahllosen Männer, die nach Fräulein Blondie fragten. Inzwischen hatte sie acht DIN A 4 Schulhefte über das Frollein angelegt. Anstrengend wurde es, wenn, so wie gestern Abend, gleich drei Männer die knarzenden Holzstufen nahmen, um in den dritten Stock zu gelangen.
Doch Frau Hauihrsmaultot hatte inzwischen Übung darin, mit ihrem Blick die sabbernden Kerle abzuscannen, Größe und Gewicht abzuschätzen, Haarfarbe zuzuordnen, eventuell sogar die Augenfarbe zu erkennen. Dies verschaffte ihr besonders heftige Glücksgefühle. Anhand der Kleidung sortierte sie gleichzeitig auch den finanziellen Status der Testosteron-Aliens ein.
Der Blick in die Tüte ließ sie wohlig grunzen. Mit faltigen Fingern glitt sie zwischen ihre ausladenden Brüste und friemelte eine lange Pinzette hervor. Mit dieser zwischen Daumen und Zeigefinger, tauchte sie durch zerknüllte Kleenextücher, Zigarettenstummel und Pizzaresten nach dem Objekt ihrer Begierde.
HA, und wieder ein neues Modell, das sie zwischen den metallenen Greifern aus der Tüte zog. Grün schimmernd und mit kleinen Perlchen, die sich um die gesamte Länge wanden, präsentierte sich die erste Lümmeltüte. Frau Hauihrsmaultot musste es einfach wissen, ob jeder der drei gestrigen Besucher auch zum Zuge kam. Schließlich war es ihre verdammte Pflicht zu wissen, ob Blondie auch zum Monatsanfang ihre Miete würde zahlen können.
Ansonsten müsste sie dem Vermieter vorab ein Warnschreiben schicken, in dreifacher Ausfertigung natürlich, versteht sich von selbst. Zu Recht. Bereits drei Mal musste sie dem Vermieter schon mitteilen, dass Blondie in verschiedenen Monaten höchstens vier Männer zu Besuch hatte, und dass es wohl übel aussähe, die Miete pünktlich zu erhalten.
Ein wenig war sie schon entrüstet, als der Vermieter eines Tages mit knallrotem Gesicht die Schreiben zerknüllt zurückgab und sie darauf hinwies, dass sie ihre Geruchssensoren anderweitiger Benutzung aussetzen sollte. So ganz verstand sie dies nicht, was er damit meinte.
Allerdings war sie zufrieden, als sie kurze Zeit danach, eines Abends bemerkte, dass der Vermieter in den dritten Stock schlich und kurz darauf lautes Stöhnen und Poltern aus Blondies Wohnung drang. Frau Hauihrsmaultot ging davon aus, dass der Vermieter nun tüchtig auf den Tisch gehauen und Blondie klargemacht hatte, dass sie ihre Miete pünktlich zu zahlen hätte.
Die Wühlattacke war heute auch wieder von Erfolg gekrönt. Nach dem grünen Tütchen kamen noch ein schwarzes mit kleinen, roten Gummihörnchen und ein roséfarbenes ans Taschenlampenlicht. Dieses allerdings überzeugte durch seine enorme Länge. Zur Kontrolle, ob es nicht nur eine optische Täuschung sei, drapierte sie die labbrigen Latexteile sorgfältig auf dem Deckel der Altpapiertonne und verglich die Ausmaße. Bewundernd betrachtete sie diese Neuartigkeit und freute sich, diese Tatsache in ihrem neunten DIN A 4 Heft verewigen zu können. Sie nahm sich ebenfalls vor, nun nach diesem Kerl durch Ausschlussverfahren zu forschen. Die Personenbeschreibungen von gestern Abend lagen ihr vor. Also müsste sie nur die nächsten Male gründlich nach den nächsten Monsterschläuchen suchen und mit den Vortagsbesuchern vergleichen. Dann wüsste sie auch, wer mit diesem, von der Norm abweichenden, Besamungsapparat gesegnet war. Dieses Ziel gab ihr erneut Lebenssinn und wusste nun, weshalb sie auf der Welt war.
Vorsichtig stopfte sie die Labberteile zurück in die Tüte und begann den nächsten Knoten zu öffnen. Ein kurzer Würgreiz wollte sie davon abhalten, einen Blick in die Tüte zu werfen, doch da müsste schon mehr kommen. Ah ja, dies war der Müll der Familie Koschinsky aus dem zweiten Stock. Sie hatten vor knapp acht Wochen Nachwuchs bekommen. Frau Hauihrsmaultot grübelte, ob sie Frau Koschinsky darauf hinweisen sollte, mit ihrem Säugling zum Kinderarzt zu gehen. Dieses schleimige Grün in der Mitte der Pampers konnte nicht gesund sein. Sicherheitshalber wollte sie sich eine der Windeln in einem Vakuumbeutel einschweißen, entschied sich dann aber doch dagegen, denn wenn das Kind fast dem Tode nahe wäre, würde es nicht von heute auf morgen gesunden. Der Arzt, den sie morgen beim Jugendamt anrufen würde, würde ihr sicher Recht geben und ihr bestätigen, dass sie durch ihren mutigen Einsatz diesem unschuldigen Wesen das Leben gerettet hätte. Verträumt verknotete die Heldin aller unbedarften Säuglinge die Endausscheidungsprodukttüte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Es wurde höchste Zeit zurückzukehren. Für heute sollte dies erst mal reichen. Jetzt musste sie sich von der Hofpatrouille zurückziehen und ihr nächstes Revier beziehen, der Stehplatz hinter dem Türspion, der ihr den Blick ins Treppenhaus gewährte. Als sie sich gemächlich umdrehte, streifte ihre Stabtaschenlampe, die noch immer zwischen ihren Kiefern klemmte, das wutverzerrte Gesicht von Herrn Backenbeiß. Der konzentrierte Lichtstrahl blendete ihn und er stieß einen erzürnten Schrei aus, bei dem Frau Hauihrsmaultot dermaßen erschrak, dass die Lichtquelle aus ihrer Kauöffnung zu Boden fiel und mit einem lauten Klirren ihr Leben aushauchte.
Herr Backenbeiß betätigte den Lichtschalter, der den Bereich des Hinterhofes beleuchtete, in dem die Mülltonnen standen. Mit eindeutig wütender Körperhaltung stiefelte er auf die zusammengesunkene Frau Hauihrsmaultot zu und begann ohne körperliche Anstrengung und ohne zur Hilfenahme des flüssigen Elementes H²O, die Lockenwicklerbestückten Keratingewächse auf dem Haupt der Neugierigen, zu waschen.
Diese schrumpfte in ihren dunkelbraunen Vorkriegsnylonstrapshaltern immer mehr zusammen und verstand die Welt nicht mehr. Noch immer unter der verbalen Dusche der donnernden Stimme von Herrn Backenbeiß huschte sie in ihre Erdgeschoßwohnung und verrammelte die Tür. Trotzig verschränkte sie ihr waberndes Armfett vor dem obersten Wulst ihrer biologisch gepolsterten Hüfte, streckte sich und linste einmal schnell durch den Spion. Das Treppenhaus war dunkel, also war Herr Backenbeiß wohl aus dem Haus gegangen. Das war sehr merkwürdig. Sofort packte sie das DIN A 4 Schreibheft vom eicherustikalfarbenen Schuhklappschrank und kritzelte diese Absurdität im Verhalten des sonst unauffälligen Herrn Backenbeiß mit rotem Filzstift auf dessen Seite.
Dennoch saß diese Kränkung tief. Wie konnte sich dieser Kerl, auf den sie heimlich ein Auge geworfen hatte (nur eins, nicht zwei, wie auf die sonstigen Bewohner des Hauses), erdreisten, ihr vorzuwerfen, sie sei die neugierigste und schlimmste Tratschtante, die ihm je begegnet sei. Wieso konnte er das nicht erkennen, welch sinnvoller Tätigkeit sie hier in diesem Sündenpfuhl nachging? Ohne sie, würde doch das totale Chaos herrschen und alle im eigenen Dreck ersticken.
Wie sähe die Welt aus, wenn sie nicht die Kontrolle darüber hätte, ob Frau Zwickenbiehl, die 85-jährige Diabetikerin, in der ihr gegenüberliegenden Erdgeschoßwohnung, regelmäßig auch die Treppenordnung einhielt? Jede vierte Woche musste sie die alte Dame darauf hinweisen, dass es ihre Pflicht sei, die Kellertreppe, das Erdgeschoß und die Dachbodentreppe zu säubern hätte. Wo kämen sie denn hin, wenn keiner mehr da wäre, der dies kontrollierte? Da Frau Zwickenbiehl diese Tätigkeiten natürlich nicht mehr ausführen konnte, wusste Frau Hauihrsmaultot ganz genau, dass sie sich Hilfe holen würde. Es war so herrlich, hinter dem Türspion zu stehen und den Vormittag damit zu verbringen, darauf zu warten, wer von den Nachbarn diesmal, mit dem Putzeimer bewaffnet, aus der Wohnung von Frau Zwickenbiehl heraustreten würde.
Nein. Niemals würde sie ihren Job vernachlässigen und damit aufhören. Es war ihre verdammte Pflicht. Sie straffte sich so heftig, dass ihre Fettmassen in schwingende Bewegungen versetzt wurden. Leise vor sich hin schimpfend drehte sie sich um, legte das Heft zurück auf Eiche rustikal und presste ihr kleines Schweinsauge auf die Bohrung in ihrer Tür, die den Blick nach außen gewährte in die Welt der anderen.
Das Klirren, das der 30 cm lange Metalldorn verursachte, als der das Glas im Spion zerstörte, war das letzte was sie in ihrem Leben hörte.
Ja, sie hing sehr an ihrem Job hinter der Tür…..