Hochfinanz
„Herr Beier, Ratingagenturen stehen zur Zeit im Mittelpunkt des Interesses. Wir schätzen uns deshalb besonders glücklich, dass Sie uns als Geschäftsführer eines der führenden Institute einen Blick hinter die Kulissen gewähren. Vielen Dank dafür. Gleich zu meiner ersten Frage: Bereitet die große Verantwortung für die Weltwirtschaft Ihnen nicht manchmal schlaflose Nächte?“„Keineswegs. Wenn ich nach einem arbeitsreichen Vormittag drei, vier Stunden Golf gespielt habe und nach Hause fahre, denke ich nicht mehr über solche Dinge nach. Ich kann mich ganz auf meine Mitarbeiter verlassen. Die wichtigsten Vorgänge bekomme ich morgens zur Entscheidung vorgelegt. Wenn ich die Börsennachrichten auf RTL2 gesehen habe, mache ich die Kreuzchen an den richtigen Stellen und gehe zum Essen. Nennen Sie mir eine Firma, die auch nur annähernd so gut organisiert ist!“
„Ich gebe zu, spontan fällt mir kein Beispiel ein. Woher bekommen Sie denn so kompetente Kräfte?“
„Nun, anfangs haben wir uns damit tatsächlich schwergetan. Wir glaubten damals, unsere Aufgabe am besten mit alten Hasen aus der Unternehmensberatungsbrache erfüllen zu können, McKinsey, Berger, Arthur D. Little. Die Kräfte, die wir tatsächlich abwerben konnten, waren aber oft schon hoch in ihren Zwanzigern. Das ist für unser Metier schlicht zu alt. Viel zu eingefahren und unflexibel.“
„Ich verstehe. Wo rekrutieren sie denn jetzt?“
„Am liebsten nehmen wir BWL-Abbrecher. Das mag ihnen auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, weil wir sehr viel mit Zahlen umgehen müssen - für Betriebswirtschaft entscheiden sich ja meist Abiturienten, deren Schwerpunkte in Religion und textilem Werken liegen. Mathematische Kenntnisse sind aber nicht mehr nötig, seit wir unseren Mitarbeitern Taschenrechner zur Verfügung stellen. Die arbeiten auf dreizehn Stellen genau, besser als ein Mensch das je könnte.“
„Und warum Studienabbrecher?“
„Nun, wir haben festgestellt, dass ein abgeschlossenes Studium – nicht bei allen, Anhänger der FDP bilden eine rühmliche Ausnahme – mit dem Bestehen von Prüfungen einhergeht, die das Wissen unserer Vorväter zum Inhalt haben. Lehrsätze aus den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts passen einfach nicht auf die Anforderungen der Finanzwelt des 21. Jahrhunderts. Wer das rechtzeitig erkennt, ist unser Mann!“
„Das bringt mich gleich auf eine weiteres Thema: Wie steht es bei Ihnen um die Gleichberechtigung?“
„Gut, dass Sie diese Frage stellen. Ich wäre aber auch selbst darauf zu sprechen gekommen, denn ich bin besonders stolz auf das, was wir hier erreicht haben. Wir besetzen seit unserer Gründung jede vierte Stelle mit einer weiblichen Mitarbeiterin, so dass wir eine konstante Frauenquote von ca. 51,839% haben. Das ist Weltspitze!“
„Beeindruckend. Wie schätzen sie die zukünftige Bonitätsentwicklung der Nicht-Schengen-Staaten mit goldgedeckter Lombardreserve ein?“
„Äh...“
„Also eine Rückstufung von Triple-A auf A?“
„Sorry, meine Mama am Telefon.“