Letzte Begegnung
Fast schon außerirdisch wirkte die Atmosphäre in dem Leichenschauhaus, das sie zögernd und mit leise aufkeimendem kaltem Schauer auf und unter ihrer Haut betrat. Ja, auch unter ihrer Haut konnte sie diesen Schauer spüren. Es fühlte sich an wie ein Déja-vu dieses sanften, wundervollen, sie fernab von dieser irdischen Welt wegtragenden Schauers, den sie immer fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen. Wenn er in sie schaute, in ihr las... bis ins kleinste Detail in ihren Augen sah, was in ihr ist. Was sie fühlte und wonach sie sich so sehr sehnte. Was er nur allzugern bereit war, ihr zu geben. Er liebte es, sie zum Fliegen zu bringen. Sein Schmuckstück, wie er sie doch so gerne nannte.
Langsam ging sie hinter dem dezent in grau gekleideten Mann den Flur entlang. Er hielt den Kopf leicht gesenkt, als würde es ihn in irgendeiner Weise berühren, dass hier ein fremder Mensch trauert und nun zu einem Toten geführt wird. 'Berührt es ihn wirklich?', dachte sie und sinnierte kurz darüber nach, was wohl in einem Menschen vorgeht, der diesen Beruf ausübt. Hat er eine dicke Mauer um sich aufgebaut? Fühlt er den Schmerz der Menschen noch, die hier täglich zu ihm kommen? Ein schrecklicher Beruf muss das sein. Sie würde daran zugrunde gehen. Für einen kleinen Moment, in dem die Zeit stillstand, hatte sie Mitleid mit diesem Mann.
Er blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie, trat zwei Schritte in den Raum und hielt die Tür für sie geöffnet. Ein kalter Schimmer kam aus diesem Raum. Es war nicht hell. Nicht dieses klinische kalte Licht, das man erwartet in einem Leichenschauhaus, wenn man diese ganzen Krimi-Serien im Fernsehen geschaut hat. Es war eher wie ein Nachtlicht, das diesem Raum ein sanftes, aber dennoch sehr kaltes Licht gab.
Sie trat ein in diesen irreal anmutenden Raum und sah seinen Körper auf einer kalten, metallenen Bahre liegen. Ein weißes Tuch verhüllte ihn, sie fröstelte. War es wirklich kalt in diesem Raum? Oder war es die Kälte des Todes, der dahingegangenen Seele, die sie fühlte? War er hier in diesem Moment? Nein. Sie war sich sicher, er war nicht hier. Er war nicht hier bei ihr. So wie er seit einiger Zeit schon nicht mehr bei ihr war, wenn sie ihn so sehr gebraucht hatte. Er war einst ein Mensch, der großzügig seine Liebe verschenkte. Aber auch irgendwann allzugerne dieses Geschenk vergaß, wenn er nicht in der Stimmung dazu war.
Hätte der Mann in Grau ihr Gesicht sehen können, wäre ihm sicher das bittere Lächeln aufgefallen, das in diesem Moment ihren sonst so sinnlichen Mund verzerrte. Und ihre Seele zerstörte.
Der Mann in Grau - nennen wir ihn mal Mr. Smith, denn die Männer in Grau sehen alle irgendwie aus wie Mr. Smith - nahm das weiße Tuch und enthüllte den Kopf des leeren Körpers und ein wenig die Schultern. Sorgfältig faltete er das Tuch auf der leblosen Brust. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ob man in diesem Beruf wohl das Falten des Tuches in einem extra dafür angelegten Kurs lernt. Dann trat er ein paar Schritte zurück ins Halbdunkel und senkte fast schon verschämt den Kopf.
Da lag er nun vor ihr. Die Augen geschlossen, die Haut weiß und leblos. Keine Mimik zu sehen, kein Leben, nicht er. Nie mehr würde er sie anschauen mit seinen sanften, wie auch harten Augen. Nie mehr würde er in ihre Seele blicken. Und nie mehr würde er sie quälen und leiden lassen! Ein Gedanke, der sie sofort eiskalt zurückholte aus ihrer kurzen Melancholie. Aus ihrer kurzen Schwäche, die sie sich geschworen hatte, nie mehr zuzulassen. Sie liebte zu sehr. Sie nahm seine dargebotene Hand und sprang. Doch er ließ los und blieb stehen. Sie fiel unendlich tief. Und dennoch liebte sie. Sie wusste nun, so fühlt sich also Hassliebe an. Ein Teufelswerk.
Wie hatte er ihr einst geschrieben?
"Ich habe Dich gelehrt, mich zu lieben. Nun lehre ich Dich, mich zu hassen."
Und sie konnte sich zumindest in den ersten Jahren immer darauf verlassen, dass er einhielt, was er ihr sagte. Nun hatte er immerhin zum Ende wieder Wort gehalten.
Eine Träne löste sich und schlich wie in Zeitlupe über ihre Wange. Sie konnte sie fühlen, als wäre es eine Berührung von ihm, die Narben hinterlässt. Ein letztes Mal zum Abschied.
"Sorry, aber wir müssen leider...", holte sie eine männliche Stimme hinter ihr zurück in die harte Realität. Sie legte die Hände - als wäre es eine letzte Hommage an ihn - wie in Trance in den Rücken und ließ sich die Handschellen anlegen.