Spätwerk
Als Rolf Julia das erste Mal sah, war es um ihn geschehen. Er konnte nur noch denken, dass das genau die Frau war, auf die er gewartet hatte, sie war die Traumfrau, die Dulcinea zu seinem Don Quichote, die Daisy zu seinem Donald. Er verstand, dass sie ihm nicht gleich um den Hals flog, als er sie in einer Kneipe ansprach – aber sie war nun mal kein leichtes Mädchen und das konnte er nur akzeptieren.Er war mit Kumpeln einen trinken, als er sie an einem Tisch sitzen sah, offenbar wartete sie auf jemanden. Immer wieder ging ihr Blick zu Tür und nur langsam nippend trank sie fast eine Stunde lang an einem Glas Wein. Rolf versuchte, ihren Blick aufzufangen, ihr sein Gewinnerlächeln zuzuwerfen, aber sie blickte von der Tür auf ihre Uhr, auf den Tisch, ihr Glas und wieder zur Tür. Was für ein Schwachkopf ließ so eine Frau warten?
Währenddessen konnte er sie genauestens betrachten. Lange, blonde Haare, blaue Augen, die sicher wunderschön strahlen könnten, wenn sie nicht so traurig ausgesehen hätten, und eine zierliche Figur in einem hochgeschlossenen Pulli zu engen Jeans. Genau sein Typ.
Aber, sie könnte jeden Moment aufstehen und gehen, da ihre Verabredung sie ja offensichtlich im Stich ließ. Also fasste er sich ein Herz, ging im Kopf noch mal die auswendig gelernten „Erfolgreichsten Aufreißsprüche für Dummies“ durch, entschied sich für seinen Lieblingsknaller und lief zielstrebig mit einem Glas Wein für sie und einem Whisky für sich – zur Nervenstärkung – zu ihrem Tisch.
„Hallo. Ich frag mich die ganze Zeit, ob das nicht fürchterlich weh getan hat?!“, sagte er laut zu ihr, damit sie ihn durch den Krach der Jukebox auch verstehen würde.
Sie sah zu ihm hoch – oh, Mann, diese Augen nahmen ihm den Atem. Die Frau war wunderschön, aber sie verstand seine Frage nicht und blickte ihm verständnislos ins Gesicht.
„Nun, als du von Himmel gefallen bist, meine ich. Du kannst doch nur ein Engel sein!“, erklärte er ihr breit grinsend und schob sich auf den Stuhl neben sie.
„Hier, ich dachte, du möchtest vielleicht noch etwas trinken. Dein Wein muss ja schon ziemlich abgestanden sein, so lange, wie du den schon in der Hand hältst.“, sagte er und schob das Glas vor sie hin. Er versuchte, dabei – wie das Buch es empfohlen hatte - den ersten Körperkontakt mit ihrer Hand herzustellen, doch sie zog schnell beide Hände auf ihren Schoß.
„Du hast mich beobachtet?“ Diese Stimme! Rolf wusste, er hatte hier was ganz Großes am Haken, das er rasch würde einholen müssen.
„Nun ja. Du bist mir schon aufgefallen. Bist wohl versetzt worden, was?“
Brüsk setzte sie sich auf und starrte zur Theke hinüber. Er war zu direkt gewesen. Wie konnte er das wieder gerade biegen? Sie fand seinen Spruch wohl nicht lustig, obwohl er sicher gewesen war, das er sie umhauen würde.
„Komm, mach dir nichts draus. Wie heißt du eigentlich? Ich kann dich ja schlecht Engel nennen.“
Er erhob sein Glas zum Anstoßen, aber sie beachtete ihn gar nicht. „Ich bin der Rolf. Rolf Montag. Trink doch was.“
Er brauchte noch einige Minuten, sein gesamtes Repertoire an coolen Sprüchen und einen weiteren Whiskey, bevor er ihren Namen erfuhr. Julia. So schön wie sie. Er war verzaubert, als sie endlich etwas lockerer wurde und mit ihm anstieß, plauderte und ein zweites Glas Wein akzeptierte. Er konnte ja nicht wissen, dass Julia, enttäuscht darüber, dass ihr Date geplatzt war, sich sagte 'was soll´s' und sich vorgenommen hatte, noch etwas aus dem Abend zu machen, auch wenn ihr dieser Lackaffe eher unsympathisch war. Eigentlich war er ja ganz witzig, dachte sie nach dem dritten Glas. Er brachte sie nach dem vierten sogar dazu, über einen Witz zu lachen und nicht über ihn.
Was genau an diesem Abend noch so alles passierte, war ihr am nächsten Tag nicht mehr in allen Einzelheiten im Gedächtnis. Er hatte sie nach Hause begleitet, doch vor der Haustür hatte sie sich verabschiedet. Nein, ihn mit zu sich heraufzunehmen war keine Option gewesen. Er hatte ihr gesagt, wie fantastisch er sie findet, dass sie die schönste Frau sei, die er je kennengelernt hätte und sie kicherte über seine Avancen. Mehr als ein Kuss auf die Wange war aber nicht drin.
Die nächsten Abende war Julia allein zuhause. Endlich mal einfach entspannen. Leider hatte Rolf ihre Telefonnummer herausbekommen und rief zwei Mal täglich an. Er verstand nicht den Wink, als Julia ihm schonend beibrachte, sie sei momentan nicht an Männerbekanntschaften interessiert, auch nicht, als sie von viel Arbeit und ihrer kranken Mutter erzählte, die sie pflegen müsste.
Rolf dachte sich, er müsse nur den richtigen Trick finden, wie er sie beeindrucken könnte. Er ließ Blumen liefern, und sogar eine - reduziert als Schnäppchen erstandene – Perlenkette. Er schrieb ihr Liebesgedichte, die er sich aus dem Netz kopierte. Zusammen mit einer Schachtel Pralinen sandte er ihr: Du bist die süßeste Versuchung, obwohl es Schokolade gibt!
In ihrem Briefkasten fand sie am Tag danach einen Zettel mit folgendem Inhalt:
Wenn uns auch Kilometer trennen,
bin ich froh, dass wir uns kennen,
denn Du bist jemand, den man nie vergisst,
weil Du was ganz besonderes bist.
Ich denke an Dich den ganzen Tag,
weil ich Dich so gerne mag!
So langsam fing er an, ihr auf die Nerven zu gehen…
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Wie konnte er nur ihr Herz erobern? Rolf schlief fast eine ganze Woche nicht mehr, sondern zerbrach sich rund um die Uhr den Kopf. Immer wieder ging er seine Talente eins nach dem anderen im Geist durch, machte sich zum Schluss sogar eine Liste, auf der er seine eigene Einschätzung auf einer Skala von '0' (keine Ahnung) bis '10' (Gott) markierte. Der längste Balken fand sich nach vielem Korrigieren und Neubewerten neben der Rubrik 'Musik', eine satte '2'.
Gleich am nächsten Morgen stand er schon vor dem Frühstück vor der örtlichen Musikalienhandlung, stürmte hinein, sobald sie öffnete, ließ sich die teuerste Konzertgitarre einpacken, flitze zurück nach Hause und begann zu üben.
Gegen Mitternacht des gleichen Tages bestieg er den letzten Bus der Linie 21, der ihn zum Haus seiner Angebeteten trug. Taumelnd vor Glück, weil Julias Fenster nicht nur in gedämpften Licht lag, sondern auch weit offen stand, platzierte er sich auf der Wiese direkt darunter und hängte sich das Instrument um. Nach zwei unterdrückten Räuspern griff er in die Saiten und sang dazu aus Leibeskräften.
Als erstes fielen die Vögel von den Bäumen der nahen Straße. Dann sah man vereinzelte Katzen aus den Büschen schießen, niesend die Köpfe schütteln und sich schließlich auf den Asphalt unter den Laternen erbrechen. Parallel dazu quollen tausendköpfige Scharen von Kanalratten in langen Strömen aus den Gullys, und stürzten sich wie Lemminge in den Teich des gegenüberliegenden Parks. Zum Schluss sah man Menschen in Nachthemden und Pantoffeln zu ihren Autos stürmen und mit quietschenden Reifen davonfahren.
Rolf sang unverdrossen weiter, bis ihn die von Julia gerufene Polizei in einiger Ratlosigkeit mitnahm, um ihn für den Rest der Nacht in der schalldichten Ausnüchterungszelle des Reviers unterzubringen.
Nur einige schwerhörige alte Leute hingen noch verstört in ihren Fenstern, als Julia als letzte fühlende Seele in der Straße zurück geblieben war und vor der Haustür stand. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte, schwankte eine Weile zwischen den Optionen und entschied sich endlich dafür, ihr umfangreiches Repertoire an Schimpfwörtern vor sich her zu murmeln, während sie die von den geflohenen Katzen umgeworfenen Mülleimer geradestellte.
Mitten in dieser Idylle löste sich ein Mann in grünen Strumpfhosen aus dem Schatten einer der die Straße umsäumenden Platanen, nahm seinen mit einer Fasanenfeder geschmückten Hut vom Kopf, um sich kurz mit den Fingern durch die Locken zu fahren, setzte den Hut wieder auf und sprang lautlos und behende auf Julia zu. Er stellte sich als Robert Horn vor.
Julia lächelte ihn zuerst an, wich aber bald schon entsetzt zurück, als dieser Mann anfing, sie dafür auszuschimpfen, einem so glühenden Verehrer das Herz gebrochen zu haben. Sie sei ein eigensinniges, undankbares und verachtenswürdiges Geschöpf, maße sich wegen lächerlicher zehn Jahre Klavierunterricht an, über Musik urteilen zu können und habe es nicht verdient, auch nur eine einzige von Rolfs Noten gehört zu haben.
Er selbst sei ein Musikant, der an allen Königshöfen der Welt wohlgelitten war, bis ihn das gleiche Schicksal wie Rolf ereilt habe und er dem Pöbel seitdem nicht mehr akustische Wonnen als das Kratzen von Kreide auf einer Schiefertafel gönne. Seine Berufung sei seit jenen Tagen, den wahren, freien und nur aus innerer Kraft schöpfenden Künstlern der Welt beizuspringen.
Julia war in Versuchung, diesem seltsamen Mann die Tür vor der Nase zuzuschlagen, hörte ihm aber weiter zu, denn sie selbst hatte sich auch schon oft Gedanken darüber gemacht, woran man den Wert eines Liedes messen könne. Sie war dabei zu keinem Ergebnis gelangt, das nicht immer wieder durch Beispiele widerlegt worden wäre, wie wahre Künstler aus jeder Art von Geräusch ein Kunstwerk schaffen konnten. Zudem hatte Robert seinen Fuß in den Türspalt gestellt und hörte nicht auf, auf sie einzureden.
„Warum dankst du ihm nicht für seine Mühe? Nur weil es dir nicht gefällt, muss es nicht schlecht sein, dies ist eine freie Welt voller Künstlernaturen. Willst du auch die ins Gefängnis sperren lassen, denen es gefiel, was er tat?“, sagte Robert. Liebe liege nicht im Auge des Betrachters, sondern sei nur aufrichtig, wenn Julia Rolf vergöttere, weil er Konventionen sprenge, und sich damit abfände, ihn nicht kritisieren zu dürfen. Nur so könne sie ihm gefallen. Auch werfe es ein schlechtes Licht auf sie selbst, wenn Rolf sich von ihr abwenden müsste.
Das leuchtete Julia ein, und so löste sie Rolf bei der Polizei aus, nahm in mit in ihr Haus und heiratete ihn. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute von Rolfs Plattenverkäufen.