Die Welt in meinen Poren
Seit vielen Wochen, ja, eigentlich sind es bereits Monate, spüre ich das Leben direkt auf meiner Haut. Ungefiltert scheinen die Stimmungen, Launen und Gedanken meiner Mitmenschen in mich einzudringen. In jede meiner winzigen Öffnungen der Haut. Direkte Verbindungswege in meine Seele. An den Ort in mir, der keinerlei Schutzschild, keine Wand oder Zaun besitzt, um sich zu schützen.
So schlagen die Eindrücke tief in den weichen Boden meiner Empfindungen ein, formen tiefe Krater, reißen Wunden, die nie, oder nur sehr langsam heilen werden.
Ich spüre eine innere Taubheit.
Auszeit! Ich habe sie mir genommen, entgegen aller Vernunft habe ich mich durchgesetzt, gegen die Normen und Verantwortungen – aber endlich einmal nur für mich.
Lange hat mein Körper gebraucht, um loszulassen, zu entspannen und wahrzunehmen, dass er frei sein darf. Eigene Bedürfnisse zu formulieren und auszudrücken, ohne sofort dafür mit Schmerzen bestraft zu werden.
Ich spüre Hoffnung.
Meine Seele, schwarz und verkrampft, fand endlich etwas Ruhe, ließ zögerlich das warme Licht der Sonne eindringen.
Auf einer Parkbank, in praller Hitze, ließ ich mich nieder um zu lesen. Der Park ist erst vor kurzem fertig gestellt worden, die Bank ganz neu, der strahlendweiße Lack dünstet noch Farbgerüche aus. Das frisch angelegte Beet direkt vor meinen Füßen, strotzt vor satten Farben. Dunkelbrauner Rindenmulch konkurriert mit dem satten Grün der Rosenstiele und dem wunderschönen Rot der Rosenblüten.
Ich stehe auf, barfuß, ich habe meine Schuhe von den Füßen gezogen. Harter Kies, der den breiten Weg bedeckt, bohrt sich in meine weichen Sohlen, ich spüre jeden einzelnen Stein. Kurz darauf betrete ich das Beet und spüre sofort die Feuchte des Mulches. Die Kühle kriecht zwischen meine Zehen und seitlich der Sohle nach oben, als ich ein wenig in diesem weichen Boden einsinke.
Vorsichtig streiche ich über die samtenen Blütenblätter und genieße dieses sanfte Gefühl, das mir die Rose vermittelt – sie dringt ein in meine Poren. Unschuldig und wehrlos steht sie hier, in diesem Beet, einzig geschützt durch ihre winzigen Dornen, doch was könnten diese gegen eine kräftige Gartenschere bewirken? Sanftes Wesen und doch so mutig.
Ich spüre Unendlichkeit.
Ich bemerke die verstohlenen Blicke der anderen Parkbesucher. Sie schätzen wohl ab, ob ich noch ganz normal bin. Eine Frau, die barfuß in einem Rosenbeet steht und gebeugt in Verzückung gerät, während sie Rosenblüten streichelt.
Mir scheinen diese murmelnden Gedanken der Gehirne über die Haut zu rinnen und gurgelnd in meine Poren einzudringen. Dort beginnen sie ihre rasante Reise auf winzigen Kanälen direkt in mein Innerstes. Viel zu viele Eindrücke drängen sich gegen die winzigen Pforten, die für alles und jeden offen stehen. Mit aller Gewalt pressen sie gegen die zarten Wände der Öffnungen, dehnen sie, bis sie bersten und alle Informationen auf einmal eindringen können.
In einer einzigen Explosion entladen sich die elektrischen Impulse und überfluten mein Gehirn. Sie brüllen, die Gedanken, sie rauschen in meinen Ohren, sorgen dafür, dass mir Schweiß aus allen Poren bricht. Ich fühle mich allein. Ausgeliefert. Zu viele Eindrücke auf einmal. Wie soll ich sie nur sortieren? Während ich dies durchlebe, dringen weitere Eindrücke durch meine Poren. Nichts wird abgewiesen, alles wird aufgenommen.
Ich spüre Angst und Verwirrung.
Wie ich in meine Schuhe geschlüpft bin und mich auf den Heimweg machte – keine Ahnung. Das sind wohl die einzigen Dinge, die automatisch ablaufen und keinerlei Auswirkungen haben. Doch kann es auch anders sein, sobald die Schuhe an einer Stelle drücken sollten. Körperlich scheint es dann nur noch diese eine Stelle zu geben. Der Schmerz an der Ferse, an der der Schuh reibt. Erst ist es nur Druck, dann entsteht Hitze unter der die Haut verbrennt. Eine Blase wächst und über dem Wasser der Wunde reibt unerbittlich der harte Stoff des Schuhes weiter. Reizt meine Haut – dringt in meine Poren.
Ich spüre Schmerz.
Zarte Berührungen, endlich wieder zulassen. Sie lösen wahre Feuerwerke in mir aus. Jeder Zentimeter meiner Haut scheint mehrere Quadratmeter groß zu sein. Ich öffne meine Poren, diese Empfindungen will ich wahrnehmen, ganz bewusst. Sie strömen in mich, drängen alles andere beiseite, löschen die Dominanz der Umwelt. Sanft überfluten sie meine Seele, wie Flüsse während einer Überschwemmung. Alles wird darunter bedeckt. Eine ruhige, glitzernde Oberfläche bedeckt Unebenheiten, Höhen und Tiefen – alles wird still und glatt.
Ich spüre Halt und Geborgenheit.
Ein einziger, fester Hieb macht Platz für ein neues Empfinden, das volle Aufmerksamkeit einfordert. Hoch schlagen die Wellen, Chaos bricht aus, Brennen dringt spitz in meine Poren. Ohne Umwege erreichen sie ihr Ziel, finden weit geöffnete Tore vor, die sie willig aufnehmen. Hektisch werden sie dort sortiert, das geschieht mit traumwandlerischer Sicherheit, alles hat seinen Platz, ich will mehr. Ich bekomme mehr, sie dringen in meine Poren.
Zarte Berührungen danach. Um ein vielfaches wirken sie nun intensiver, sie treffen auf einen anderen Boden. Vorbereitet durch das Aufwühlen der Gefühle, die begierig danach schreien, besänftigt zu werden. Der zarteste Kuss, das sanfte Streichen der Lippen, der leiseste Lufthauch, das Antippen der Zungenspitze – alles dringt ein in meine Poren.
Ich spüre Liebe und unendliches Vertrauen.
Nie will ich es verlieren, diese Gabe des tiefen Empfindens. Doch muss ich lernen, dem einen Riegel vorzuschieben, was meine Seele zerstören will.