Wo ist das Glück?
Natalie lief beflügelt durch den Park. Heute Morgen war alles so wunderbar! Es war Frühling, die Sonne schien, die Bäume und Sträucher standen in voller Blüte und ihre Laune war auf einem erfreulichen Hoch.Sie mochte diesen täglichen Gang durch den Park zu dem Bürohaus, in welchem sie ihrer Arbeit als Anwaltsgehilfin nachging. Dabei konnte sie immer ein wenig Ruhe einatmen und den Tag frisch und motiviert beginnen. Heute, nachdem sie herausgefunden hatte, dass ihr Jan heute Abend einen Heiratsantrag machen wollte, war ihre Motivation allerdings ohnehin nicht mehr zu toppen.
Er hatte immer gesagt, noch damit warten zu wollen, aber als sie seine Hosentaschen für die Wäsche entleerte, fand sie den Ring, den er in einer Tasche vergessen hatte. Er war wunderschön, Weißgold mit einem kleinen stilisierten Herz aus Diamanten. Ihr waren fast die Tränen gekommen, aber sie wollte ihm die Überraschung nicht nehmen und legte die Hose mit dem Ring wieder zurück auf den Stuhl, von dem sie diese für die Wäsche genommen hatte.
Als Jan nach Hause kam, tat sie so, als wäre alles wie immer. Sie hatten einen sehr schönen Abend und eine noch schönere Nacht, müde war sie trotzdem am nächsten Morgen nicht.
Er war schon ein Mann, der wusste, wie er eine Frau im Ungewissen lassen konnte. Er hatte immer davon geredet, dass er nicht heiraten möchte, jedenfalls noch nicht. Und er hielt sich auch mit Zuwendungen und Gefühlsoffenbarungen sehr zurück, so dass sie niemals auf die Idee gekommen wäre, dass er etwas vorhaben könnte. So konnte man sich irren, sie hatte ihm seine reservierte Art in den letzten Wochen absolut abgenommen. Diese Nacht allerdings nicht mehr….
Sie konnte ihr träumerisches Lächeln kaum eine Sekunde lang ablegen.
Als sie in das Büro kam, saß ihr Chef bereits hinter seinem Schreibtisch. „Schönen guten Morgen Frau Gehsten! Sie sehen aber zufrieden aus, gibt es etwas zu feiern?“ begrüßte er sie freundlich. „Nein, Chef, noch nicht. Aber vielleicht morgen, mal sehen. Jetzt hab ich einfach nur gute Laune! Steht heute etwas Besonderes an?“
Er kramte kurz in seinen Unterlagen. Zwei Akten legte er dabei heraus und reichte sie ihr. „Die zwei Fälle hier müssen schnellstmöglich zu Gericht. Der erste ist der Fall von dem Bauunternehmer, für den ich den Einspruch diktiert habe, den müssen Sie noch abtippen und dann abgeben. Da wird die Frist übermorgen ablaufen. Für den zweiten hier müssen Sie das andere Diktat fertig machen und auch sofort zu Gericht bringen. Die Diktate sind beide hier drauf.“ Er reichte ihr das Gerät.
„Ich mach das sofort, dann ist das bis zur Mittagspause fertig. Bevor ich dann Pause mache, bringe ich es eben rüber.“
An ihrem kleinen Schreibtisch stellte sie das Gerät an und tippte ein wenig gedankenverloren die beiden Schriften. Auch wenn beide Fälle nicht gerade zu denen der üblichen Sorte gehörten und auch eher gegen gute Laune sprachen, ließ sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen und strahlte weiter vor sich hin.
Drei Stunden später saß sie bei ihrem Mittagessen und überlegte, was sie wohl heute Abend mit Jan machen würde, ein schönes Essen mit Kerzen oder vielleicht doch auswärts, vielleicht auch ein schönes, romantisches Picknick? Na, das sollte aber schon seine Aufgabe sein, befand sie dann und widmete sich wieder ihrem Salat. Sie konnte sich etwas Zeit lassen, die Gerichtssekretärin hatte gerade keine Zeit gehabt und hatte sie darum gebeten, die Eingangsbestätigungen etwas später abzuholen. Das war ihr ganz gelegen gekommen.
Das Handy schrillte los und riss sie damit jäh aus ihren Gedanken. Jan`s Foto lächelte sie vom Display des Telefons an.
„Hallo Süße, was machst Du gerade?“
„Hi mein Schatz! Ach, ich sitz gerade beim Mittagessen und warte auf zwei Bestätigungen von Gericht. Und Du? Geht`s Dir gut?“
„Jaja, passt schon. Ich hatte mir gerade überlegt, ob wir heute essen gehen sollen? Ich hätte auch noch ein Anliegen, da wäre es ganz gut, wenn wir so richtig unsere Ruhe hätten. Wir könnten doch ins ´Carlo` gehen? Da würde ich dann einen separaten Tisch bestellen. Hast Du Lust?“
Ihr Herz machte sofort einen Hüpfer vor Freude und ihr Puls stieg angenehm an.
„Seeeeeehr gerne! Das ist eine schöne Idee, ich würde mal sagen, so gegen neun. Wäre das ok?“
„Klar doch, ich kümmer mich drum. Dann bis nachher!“
„Bis nachher! Ich liebe Dich, mein Schatz!“ Aber er hatte schon aufgelegt. Na ja, das war auch nicht so dramatisch.
Sie seufzte und stellte ihren Teller zurück auf das Tablett. Während sie ihr Geschirr zum Abräumband brachte, stellte sie sich den Ablauf des Abends vor. Sollte alles so laufen, wie sie es sich dachte, würde Jan im Anschluss die schönste Nacht seines Lebens verbringen, das wäre sicher. Bei diesem Gedanken wurde ihr etwas warm und ein Kribbeln lief ausgehend von den Lenden durch ihren Körper. Sie schauerte ein wenig und konnte es kaum erwarten.
Leider hing sie so sehr ihren Gedanken ach, dass sie die Eingangsbestätigungen vergaß und erst im Büro wieder daran dachte. Glücklicherweise war ihr Chef zu einem Mandantengespräch in der Justizvollzugsanstalt, was ihr die Zeit gab, noch einmal los zu laufen. „Das bedeutet länger arbeiten!“ schoss ihr durch den Kopf. Passte es dann immer noch? Hatte sie noch die Zeit, sich fertig zu machen, Jans Lieblingsunterwäsche anzuziehen und alles so perfekt wie möglich zu gestalten? Sie lief schneller, rannte über eine rote Ampel und stürmte die Treppen zum Gerichtsgebäude hinauf. Die Gerichtssekretärin war nicht in ihrem Büro, nur ihre Kollegin saß an dem zweiten Schreibtisch.
„Wo ist denn Frau Baltin? Ich hatte ihr vor ein paar Stunden zwei Protokolle gebracht und benötige noch die Eingangsbestätigungen!“
Die Kollegin sah auf und blickte sie über die Ränder ihrer Lesebrille streng an.
„Sie ist in einer Verhandlung und protokolliert. Das kann auch noch eine ganze Weile dauern, die Sitzung hat erst vor zehn Minuten begonnen. Können Sie sich nicht an Zeiten halten, die Ihnen vorgegeben werden? Meines Erachtens hat sie Ihnen gesagt, wann die Bestätigungen abzuholen sind!“
In ihrem Inneren kämpfte Verzweiflung über diese Zwickmühle, in die sie sich selbst gebracht hatte und Wut über diese überhebliche Kuh, die es sichtlich genoss, Natalie so nieder zu machen.
„Ja, Sie haben ja Recht, aber es ist noch etwas dazwischen gekommen. Sie kennen doch die Juristerei, da ist ständig irgendetwas wichtig, bis man gar nicht mehr weiß, was nun ganz oben steht! Was soll ich denn jetzt machen?“
Dieses oberschlaue Weib streckte sich noch ein wenig und setze sich zurecht.
„Ich will mal nicht so sein. Frau Baltin hat mich gebeten, Ihnen die Bestätigungen auszuhändigen. Hier sind sie. Aber dass mir so etwas nicht noch einmal passiert. Dann gibt es keine Sonderbehandlung mehr!“
„Jajaja, LmaA!!!“ Das dachte sie allerdings nur und sauste sofort wieder zurück ins Büro.
Entgegen ihrer Erwartungen schaffte sie es tatsächlich noch rechtzeitig, alle Aufgaben für diesen Tag innerhalb der Arbeitszeit zu schaffen. Als sie sich zum Gehen fertig machte und in Gedanken bereits in ihrem Kleiderschrank wühlte, rief ihr Chef sie noch einmal zu sich. „Oh nee, bitte nicht! Nicht heute!!“
Aber er saß feierlich hinter seinem Schreibtisch und sah sie auf eine Weise an, die nicht die typischen Worte „Ginge es heute ein wenig länger? Ich hab da noch einen ganz wichtigen Prozess…“ erahnen ließen.
„Frau Gehsten!“ begann er mit einem nicht so ganz deutbaren Tonfall.
„Sie sind jetzt schon zehn Jahre bei mir! Heute auf den Tag! Herzlichen Glückwunsch!“
Sie war ein wenig überrumpelt. „Oh, wirklich? Das hatte ich gar nicht so im Kopf… Danke schön!“ Sie lächelte unbeholfen.
„Allerdings! Und in dieser Zeit haben Sie mir so gute Arbeit geleistet, wie es kaum eine andere hätte schaffen können. Ich bin Ihnen sehr dankbar und freue mich, dass Sie bis heute nicht auf die Idee gekommen sind, mich zu verlassen. Ich möchte Ihnen dafür meine Wertschätzung ausdrücken und Ihnen eine kleine Anerkennung überreichen.“
Er übergab ihr einen Blumenstrauß und einen Briefumschlag.
„Machen sie ihn zu Hause auf, bitte. Und grüßen Sie Ihren Freund von mir. Genießen Sie den Feierabend, morgen haben Sie frei!“
Wow, besser ging`s ja gar nicht! Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und war immer noch wie paralysiert, als sie zu Hause die Blumen ins Wasser stellte und den Briefumschlag aufriss. Darin befand sich ein Bogen Papier, wie sie sie jeden Tag zigmal aus dem Drucker holte. Die Kopfzeile mit dem Emblem des Büros und das Wasserzeichen ihres Chefs.
Aber die Zahl, die ihr zwischen den warmen Worten fettgedruckt ins Gesicht sprang, die war nicht üblich. 15.000€! Eine Gratifikation für ihren Einsatz und ihre motivierte Arbeit. Wahnsinn! Der Tag war einfach himmlisch!
Die zwei Stunden bis zum Treffen mit Jan vergingen wie im Flug, sie sang nur noch vor sich hin und ihre Laune war so gut wie noch nie zuvor.
Im Taxi konnte sie es nicht mehr erwarten, endlich anzukommen und diesen wunderbaren Tag ausklingen zu lassen.
Kurz darauf stand sie vor dem `Carlo´ und atmete noch einmal durch. Kurz bevor sie zu der Tür kam, die sie noch vom Rest ihres perfekten Tages trennte, stach sie etwas in ihre Brust. Sie konnte es nicht so ganz einordnen, was das sein konnte und griff danach. Es stach schon wieder, diesmal etwas weiter unter dem vorigen Bereich, aber dafür gleich an mehreren Stellen.
Die Realität um sie herum verschwamm und verlief in sich, während sie aufwachte.
Ihr Kater Samson stand auf ihrer Brust und trampelte vor sich hin, krallte ihr mit seinem Milchtritt unablässlich in die Haut und beendete somit ihren so perfekten Traum.
Sie schob ihn von sich herunter und quälte ihren alten Körper aus dem schmalen Bett. Nach einem Moment der Orientierung wurde sie sich wieder ihrer wahren Realität bewusst. Das machte sie traurig und versetzte sie wieder in ihre tägliche trübe und nachdenkliche Stimmung.
Sie sollte jetzt aufstehen und frühstücken. Nur warum eigentlich? Jeden Tag aufstehen, nur um immer die gleichen Sendungen im Fernsehen zu verfolgen? Sonst hatte sie ja nichts zu tun. Familie hatte sie keine mehr, ihre Geschwister waren schon eine ganze Weile tot und ihre Nichten und Neffen hatte sie zuletzt auf der Beerdigung ihres letzten Bruders gesehen.
Einen Mann hatte sie nie gefunden, keiner wollte sie heiraten. So hatte sie nach ihrer Pensionierung die Wohnung nur noch selten verlassen.
Im Bad sah sie sich durch den Spiegel in ihre trüben Augen. 72 Jahre! Und wofür? Damit sie immer nur in ihren Träumen glücklich war?
Samson lief um ihre Beine herum verlangte lautstark nach Futter.
Nein, so sollte sie nicht weiter machen. Sie wollte weiter träumen, wollte nicht immer wieder aufwachen! Da war sie sich sicher!
Also nahm sie Samsons Futternapf, mischte sein Futter mit dem Rattengift, das sie schon vor einiger Zeit besorgt aber nie benutzt hatte und stellte es auf den Fußboden, wo der Kater sich sofort darüber her machte. Für sich selbst mischte sie einige ihrer Medikamente zusammen und schluckte sie, ohne weiter darüber nachzudenken.
Anschließend nahm sie den Kater auf den Arm und legte sich wieder auf ihr Bett. Samson rollte sich direkt auf ihrem Bauch zusammen und schnurrte gemütlich.
Fast zwei Monate später ließ der Vermieter die Wohnung öffnen, nachdem sich mehrere Mieter über den penetranten Gestank beschwert hatten.
„Das ist jetzt schon das vierte Mal in diesem Jahr! Wissen diese Alten eigentlich nicht, wie teuer es ist, so eine Wohnung wieder vermietbar zu machen? Warum sterben die nicht im Altersheim? Und ich kann dann sehen, wo ich bleibe! Nie wieder alte Leute!“ So schimpfte er weiter vor sich hin, während die Polizei die Leiche der alten Natalie und Ihres Katers untersuchte.
Natalie war das inzwischen egal. Sie stand vor dem `Carlo` und freute sich darauf, was wohl hinter dieser Tür auf sie wartete, die sie in den letzten Jahren nie hatte öffnen können. Und es gab nichts mehr, was sie jetzt wieder wegziehen konnte.
Sie war endlich da, wo ihr Herz war.
Und sie war glücklich.