Ronja und die Nibelungen
Una, die Alte, hatte sich in ihren Sitz aus weichem Moos, das mit verschiedenen Fellen belegt war, zurück sinken lassen und seufzte über ihre Rückenschmerzen. Dann rief sie fordernd: „Ronja! Komm doch mal her zu mir!“ Das junge Mädchen, welches sie Ronja nannte, spielte gerade im Eingang der großen Höhle mit einem jungen Fuchswelpen. Schnell gab es ihrem Spielkameraden einen kleinen Klaps auf den Hintern und dieser trollte sich davon. Sie blinzelte zuerst einige Male mit den Augen, um sich an das Halbdunkel der Höhle zu gewöhnen und setzte sich dann zu Füßen der Alten.
„Ja, Una, ich bin da. Was ist? Was soll ich tun?“
„Zeige mir deine Hände, alle deine Finger!“
„Warum? Meine Hände sind nicht mehr schmutzig, Una, ich habe sie mir heute, als die Sonne gerade ganz rund und rot geworden war an der Quelle gründlich gewaschen, wirklich!“
„Darum geht es nicht, Ronja. So viele Winter und Sommer, wie du jetzt da, an deinen Fingern abzählen kannst, wenn du deine rechte Hand noch einmal hochhebst. Fünfzehn Jahre ist es jetzt her, dass du zu mir gekommen bist…, komm, stehe einmal auf und zeige dich mir!“
„So viele Sommer und Winter Una? Wie bin ich denn zu dir gekommen? Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.“
„Das glaube ich dir gerne, mein kleines Rabenvögelchen, mein wildes Wölfchen, dass du das nicht mehr weißt. Das kannst du auch gar nicht wissen, weil du ja damals so ein kleines niedliches nacktes Krabbelwürmchen warst, als Raka dich hier, vor meiner Tür abgelegt hatte.“
„Wer ist denn Raka, Una? Ist das meine Mutter? War ich eine von ihren kleinen Rakas?“
„Nein Ronja, Raka war eine Wölfin. Sie war einmal eine meiner besten Freundinnen. Sie hat dich hier im Wald gefunden. Deine richtige Mutter kenne ich nicht. Ich weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. Hier sind schon so viele Züge mit Menschen vorbei gekommen, die vor den wilden Horden der Reiterkrieger aus Sonnenaufgang fliehen und nach Sonnenuntergang ziehen. Raka hat dich gefunden und gesäugt, als sie selbst junge neu geborene Welpen hatte. Aber du hast ihre Kleinen immer von ihren Milchzitzen fortgejagt und du hast sie immer gezwackt, obwohl du noch gar keine richtigen Zähne hattest. Und weil du ein kleines Menschenkind warst, so wie ich es auch einmal war, hat sie dich zu mir gebracht. So war das vor fünfzehn Sommern.“
„Was ist das, ein Menschenkind? Hier im Wald gibt es doch nur dich und mich, die auf zwei Beinen gehen. Alle anderen können fliegen oder sie gehen auf vier Beinen. Manche krabbeln auch oder sie können nur kriechen. Im Wasser sind die Fische und die Frösche und manchmal auch die Biber und die Otter. Sind wir Menschenkinder? Warst du auch einmal so, wie ich es jetzt bin, Una, so klein?“
„Ja, meine kleine Ronja. Ich war auch einmal so wie du. Das ist schon lange her. Wenn du fünfmal deine beiden Hände mit allen Fingern hochhebst, dann weißt du es. Auch die Menschen aus meinem Dorf sind damals geflohen, aber nicht vor den wilden Reitern, sondern vor dem Eis und vor der Kälte. Sie hatten fast nichts mehr zu essen. Und da sind wir auch schon dort angelangt, worüber ich mit dir reden muss. Du musst jetzt endlich die anderen Menschen kennen lernen, und du musst wissen, was an ihnen gut ist und was böse ist, sonst tappst du mir noch blind in eine Falle.“
„Eine Falle? Was ist das? Und Reiterkrieger? Was machen die? Das habe ich ja noch nie gehört.“
„Hm, eine Falle, das ist eine versteckte Schlinge oder ein Kasten, in welchem man Tiere oder auch Menschen einfängt, um sie zu essen oder zu töten oder zu quälen. Und Reiterkrieger – von denen habe ich auch nur gehört. Sie reiten auf Pferden, so wie du immer auf Gromm, dem alten Bären drüben in seiner Höhle.“
„Was denn, die essen Menschen? Und sogar Tiere? Das kann man doch aber gar nicht!“
„Doch, mein Kind, die können das. Na gut, Menschen essen sie nicht, die töten sie nur oder sie sperren sie ein. Aber Mädchen, wie du eins bist und Frauen, wie ich eine bin, nur vielleicht jünger, denen tun sie auch manchmal Schlimmes an.“
„Nein, Una, das kann ich aber nicht glauben. Ja, dass ein Tier einmal alt wird und stirbt, oder dass ein großes Tier einmal ein kleines Tier frisst, weil es Hunger hat, das weiß ich ja, und auch dass ich manchmal mit Rike, meiner Wolfsfreundin, böse bin, wenn sie wieder mal ein kleines Häschen gefressen hat. Aber Rike sagt dann immer, dass das Häschen krank war und sowieso hätte sterben müssen und dabei sich lange gequält hätte. Na gut. Aber warum tun die Menschen den Mädchen und Frauen Schlimmes an. Das sind doch auch alles Mädchen und Frauen, junge und alte Menschen, oder?“
„Nein Ronja. Es gibt auch noch eine andere Art vom Menschen. Männer. Die gibt es auch bei den Wölfen, den Füchsen, den Bären, bei allen Tieren und also auch bei den Menschen. Frag doch mal deine Freundin Rike, warum jedes Jahr nach der Baumblüte ihr Feind Rarpe, der Wolf, den sie sonst immer gleich verjagt, wenn er sich mal blicken lässt, so lustig auf ihr herumreiten darf und warum sie bald danach wieder viele kleine Wölfchen um sich hat, mit denen du dann immer so gerne spielst. Das ist nämlich ihr Wolfsmann, ihr Rüde. Und der reitet nicht nur so zum Spaß auf ihr herum. Der macht ihr nämlich die kleinen niedlichen Welpen rein in ihren Bauch. So ist das. Meine liebe Ronja. Und damit sind wir auch schon bei dir angelangt. Lasse mich doch einmal sehen, ob da nicht auch bald einmal so ein Menschenmann Lust kriegen könnte, auf dir herumzureiten, meine Kleine. Ziehe doch bitte mal das große Hirschfell vom Eingang weg, damit ich dich besser sehe und stelle dich mal in den Eingang. Drehe ich, damit ich dich überall ansehen kann.“
„Was willst du an mir nur sehen, Una? Ich habe mich überhaupt kein bisschen verändert. Das hier vorn, das sind nur die Beulen von zwei Wespenstichen. Die sehen lustig aus, nicht? Dass sie so gleichgroß angeschwollen sind, meine ich. Die tun auch gar nicht weh, sind ganz weich, aber sie heilen eben nur ganz langsam wieder ab. Ach ja, und meine Backen hinten. Das ist auch komisch. Immer, wenn ich sonst beim Klettern mal von einem Baum gefallen bin, dann hatte ich schlimme Schmerzen in den Knochen von meinem Hinterteil. Aber gestern bin ich vom Baum gefallen und da hatte ich fast keine Knochenschmerzen. Dafür hatte ich aber blaue Flecken auf meinen dicken Backen und es hat geblutet. Aber nicht hinten, sondern vorne heraus, wo ich sonst immer Wasser ablassen muss. Ich habe dir nichts gesagt, weil es von selber wieder aufgehört hat zu bluten und ich habe mir auch gleich einen Sud aus Magenkräutern gemacht, weil mir davon ein klein bisschen schlecht geworden war. Ist schon wieder gut, Una.“
„Ach Ronjamädchen, du mein kleines Dummchen. Nein, verzeihe mir, du bist natürlich kein kleines Dummchen. Du bist alles andere, als das. Ich dumme Alte hätte es dir viel eher sagen müssen, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Ich wollte dich halt damit verschonen, solange dir hier bei mir nichts zustoßen kann. Aber jetzt sollst du ja unter die Menschen gehen und da muss ich es dir schon sagen, damit du gewarnt bist.
Und etwas anziehen wirst du dir auch müssen, meine liebe Ronja, sonst vergafft sich doch gleich einer von den Kerlen in deine Wespenstiche und in deine dicken Hinterbacken. Ich habe dir schon ein Kleid aus besticktem Rehleder genäht.
Hoffentlich passt es dir. Und ein Hemd aus Hanflinnen für dich wird sich auch finden.
Höre mir zu: Du bist jetzt kein kleines Mädchen mehr, Ronja, du bist jetzt schon eine junge Frau, und jeden Tag wirst du es ein klein bisschen mehr sein. Du musst jetzt aufpassen und gut auf dich achten, weil ich es bald nicht mehr für dich tun kann. Mit mir geht es langsam zu Ende. Glaube mir, ich merke es jeden Tag deutlicher, besonders am Morgen weiß ich manchmal nicht mehr, ob ich die nächste Nacht überleben werde.