Tamaras großer Tag
Tamaras großer TagManchmal ist es zu spät. Bei manchen Dingen wird es immer zu spät sein. Wie zum Beispiel bei nie geführten Gesprächen, bei einer nicht gegebenen Verzeihung, bei einer Unterlassung.
Tamara saß träumend an der Bushaltestelle, hatte die Augen halb geschlossen, den Rucksack am Schoß und den Mund leicht geöffnet. Es verlieh ihr ein etwas dümmliches Aussehen, doch daran störte sie sich nicht. Sie war sechzehn Jahre alt, ein wenig pummelig, was sich hoffentlich noch auswachsen würde, einige Pickel versuchten sich am Kinn breitzumachen und das braune Haar fiel ihr in einem modischen Schnitt ins Gesicht. Normalerweise starrten ihre grünen Augen wissbegierig und teils skeptisch, teils vertrauensvoll in die Welt und manchmal waren sie auch liebevoll verklärt oder einfach nur verliebt zu nennen.
Tamara träumte sich eine Welt zurecht, in der es nichts gab, das sie fürchten musste, denn das Fürchten hatte sie gelernt, als sie in die neue Schule kam. Hier waren gleich mehrere Gangs – Mädchen- und Jungengruppen, welche die Schüler drangsalierten und ausraubten, besonders die, welche nicht ganz angepasst erschienen. Anfangs hatte sie sich zu wehren versucht, war davon gelaufen, hatte es einem Lehrer erzählt, dann auch dem Rektor und ihrer Mutter, doch alle hatten nur ratlos die Schultern gezuckt und gemeint, das wäre halt hier so und sie würden die Jugendlichen beobachten. Beobachten! Als ob davon ihr Handy wiederkommen würde, oder ihr Taschengeld. Sie bekam schon keines mehr, dafür war jetzt ihre neue Jacke weg und auch das Notebook, welches sie so dringend für den Unterricht benötigt hätte – es steckte jetzt in Aishes Tasche, die eine rosarote Folie über das Gehäuse geklebt hatte. Es sah nur noch ekelhaft aus. Aishe war die Anführerin einer Mädchengang und zeichnete sich durch überaus brutale Übergriffe aus, Irina war die zweite in der Hierarchie und nicht ganz so wild, dafür kannte sie einige schlimme Internetseiten und sie wusste, wie sie die Jungs fertigmachen konnte. Daneben gab es noch Münire, eine, die sich Bambi nannte und Lilli. Diese fünf Teenager schikanierten sämtliche Mädchen und schreckten auch nicht davor zurück, anderen Jungs, vorwiegend blonde, dumm anzumachen und sie dann niederzuprügeln. Aishe war eine hübsche junge Frau, fand Tamara zumindest, die ihre Reize gekonnt einsetzte, aber auf dem Nachhauseweg immer ein Kopftuch trug. Ihr Bruder, Harim, achtete darauf, dass es auch richtig saß und nahm ihr dann die Tagesbeute ab. Harim war ihr kleiner Bruder und trotzdem tat sie was er ihr sagte. Tamara fand das dumm, hielt sich aber heraus und beobachtete nur aus der Ferne. Diese Kultur war ihr fremd – einerseits wurde Aishe unterdrückt, Tamara erkannte das ganz genau und hatte auch schon mehrfach mitbekommen, wie Aishe von ihrem Bruder geschlagen worden war, andererseits war sie so dreist, dass sie andere Kinder ausraubte und gab sich selbstbewusst. Tamara verstand diese Zwiespältigkeit nicht und keiner konnte oder wollte ihr Auskunft geben.
Tamara träumte sich weg von diesem ganzen Elend, das sie kaum ertragen konnte, von der kleinen Wohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnte, den Vater gab es nicht mehr, der hatte nicht mehr bei ihnen sein wollen. Sie konnte das verstehen. Wer würde auch bei so einer grotesken Familie sein wollen, die sich täglich ausrauben ließ und nichts dagegen unternahm? Insgeheim wusste sie allerdings, dass sich ihre Eltern nicht mehr leiden konnten und sie ein Teil des Auslösers war. Sie wusste auch, dass es ihrem Vater egal gewesen wäre, wenn man sie ausraubte. Es interessierte ihn auch jetzt nicht. Tamara wusste nicht einmal, ob er von ihrem täglichen Spießrutenlauf durch die Gänge der Schule wusste. Um nicht zu oft zur Toilette gehen zu müssen, hatte sie ihre Flüssigkeitszufuhr begrenzt. Sie trank nur noch, wenn sie zuhause war, alles andere war zu gefährlich. Schon mehrmals waren Kinder auf dem Klo verprügelt, mit dem Kopf in die Klomuschel gesteckt, ausgeraubt und vergewaltigt worden. Sie hatte keine Lust darauf, ihre Bekanntschaft mit der Klomuschel zu erneuern. Nie war sie sich so erniedrigt vorgekommen, wie an dem Tag.
Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie wollte sich eine hübsche Zukunft malen, so wie sie sie sich verdiente – wie sie sein sollte.
Weiter kam sie nicht, denn der Schulbus kam und holte sie mit ihrem Traum ab und brachte sie in die Zukunft, die nur Angst verhieß.
Sie stieg ein, drückte sich an die Wand des Busses und versuchte unsichtbar zu werden, denn sie hatte Bambi entdeckt, die feixend hinten im Bus stand und eben einen kleinen Jungen um sein Pausenbrot erleichterte. „Das nächste Mal nimmst du nur Käse, du Spinner, ich ess kein Fleisch. Und nun her mit dem Taschengeld.“ Während der Bub ausgeraubt wurde, starrten die anderen Fahrgäste angestrengt irgendwo hin, versuchten unsichtbar zu werden und das Geschehen nicht zu sehen.
Unbegreiflich war das. Unfassbar, dass zwanzig Erwachsene, die sich in diesem Bus befanden, vor einer einzigen Jugendlichen kniffen, die einen viel Jüngeren fertig machte. Tamara löste sich von der Bordwand und ging nach hinten. Sie wusste nicht, woher sie plötzlich den Mut nahm oder die Sicherheit, das Richtige zu tun, doch sie brüllte: „He, Bambi, du feiges Arschloch! Kannst wohl nur mit kleinen Buben, was. Wie peinlich! Gib ihm seine Brotzeit zurück und auch sein Geld, dann steig aus!“ Sie war so sicher in dem was sie sagte, dass sie keinerlei Angst verspürte – auch nicht, als sie an der nächsten Haltestelle aus dem Bus geprügelt wurde.
Die Erwachsenen sahen zu …
manchmal ist die Angst so groß, dass sie einen die Augen und die Ohren zuhält. Die Angst als uncool, rassistisch oder intolerant zu gelten ist so groß, dass man lieber wegsieht, wenn andere drangsaliert werden.
(c) Herta 8/2011