Überleben
ÜberlebenAlles war temporär. Das war die eindrücklichste Lektion, die sie das Leben gelehrt hatte.
Von Geburt an, richtiger in der Nacht ihrer Zeugung beginnend, waren ihre Aufenthalte zeitlich begrenzt und generell unsicher.
Ihre Mutter wurde schwanger ins Lager gebracht und überlebte die Geburt nur um wenige Monate. Nach der Befreiung brachte man sie über die folgenden Jahre zu immer neuen und immer entfernteren Verwandten, die immer weniger die Zeit, die Geduld oder die Mittel hatten, sich um sie zu kümmern.
Aber ein Dach über dem Kopf, ab und an eine warme Mahlzeit und ein wenig Mitleid ließen sie überleben. Sie verhielt sich so unauffällig wie möglich und fiel niemandem zur Last. Sie drückte sich in die schattigen Ecken der Zimmer, sprach selten und hörte dafür umso mehr zu. Ohne je eine Schule besucht zu haben, lernte sie lesen und schreiben. Ebenso die vier Sprachen der zahlreichen Länder, in die sie gebracht wurde. Jedes Mal, wenn sie wieder irgendwo hin geschickt wurde, drückte man ihr einen billigen Koffer mit ein paar Kleidungsstücken, Papieren, die ihre Existenz beweisen sollten, und ein wenig Geld oder eine Fahrkarte in die Hand.
Sie blieb klein und schmächtig, und so hielt man sie noch für ein Kind, als sie längst eine junge Frau war.
Eine Großtante in Budapest, die sie einmal beim Waschen in ihrer Kammer sah, meinte sarkastisch: Bei dir liegt ja auf dem Knochenmark gleich die Epidermis. Was Epidermis bedeutete, fand sie in einem Lexikon ihres Onkels, der Arzt war.
Als sie in Madrid bei einem Paar lebte, zu denen sie auch Tante und Onkel sagte, gab es zwar genug zu essen, aber sie blieb ohne Busen und ohne Hintern. Das eine gute Kleid, das sie damals bekam, passte ihr ein Leben lang.
Dieser Onkel war Mathematiker und sie entdeckte bei ihm die Magie der Zahlen.
Fortan war ihr größtes Glück, in kleine Hefte immer kompliziertere Rechnungen zu schreiben. Als sie die beiden verlassen musste, waren in ihrem Gepäck unzählige Hefte voller Zahlen.
In London pflegte sie etwas später einen alten Onkel bis zu seinem Tod. Da seine Kinder mit ihr nichts anzufangen wussten, ein Rest von Familienehre sie aber davon abhielt, sie einfach auf die Straße zu setzen, kauften sie ihr eine Schiffspassage nach New York. In ihrem Koffer war ein Zettel mit der Adresse eines Cousins, der dort ein „Geschäft“ hatte.
Cousin Bert blickte sie aus trüben Augen im noch trüberen Licht seiner zwei Glühbirnen an, die über dem Kassentisch hingen. Er reichte ihr wortlos ein Schürze, deutete auf die staubigen Regale mit Schachteln und Kisten voller Schrauben, Muttern, Gewinden und anderen Eisenwaren.
Sie nahm einen gräulichen Lappen aus einem Eimer in der Ecke und putzte sich durch die wenigen Quadratmeter.
So begann mein Leben in New York.
Der Laden von Cousin Bert warf nicht einmal genug für seinen Alkoholkonsum ab, und so suchte sie sich eine neue Stelle.
Sie arbeitete unter anderem als Gardrobiere, verkaufte Bagels in einer jüdischen Bäckerei und trug samstags die Gemeindezeitung der Methodisten aus. Bald kannte sie alle Läden und ihre Besitzer in dem Viertel, in das sie das Leben gespült hatte.
Männer gab es nur als Arbeitgeber oder Kunden in ihrem Leben. Sie war zu arm, um ihre Gier zu wecken, und zu unscheinbar, um ihr Begehren zu erregen.
Von Frauen wurde sie nicht ernst genommen, weder als Freundin noch als Konkurrenz.
Sie lebte mit ihrem Koffer in einem kleinen Mansardenzimmer im Niemandsland der Anonymität.
Bis Joe in ihr Leben trat. Genauer, bis sie in Joes Hintern trat. Sie wollte in Kelly`s Gemischtwarenladen eintreten, wo sie einmal pro Woche bei der doppelten Buchführung half. Die sie quasi für Kelly erfunden hatte; denn während Kelly offiziell Kaugummis, Zigaretten und Seidenstrümpfe über den Thresen reichte, verkaufte er unterm Ladentisch Ware in Kartons oder Stofflappen gewickelt, für die sich Männer in Nadelstreifenanzügen ebenso sehr interessierten wie die grauen Herren von der Steuerbehörde oder der Polizei.
Sie tippte vorsichtig an Joe`s riesigen Nadelstreifenrücken, der ihr den Weg versperrte. Nichts geschah. Sie drückte ihre kleine Faust dagegen – doch Joe schwätzte so erregt, dass er nichts merkte. Also holte sie mit einem Bein Schwung und trat ihn in seinen Allerwertesten.
Joe drehte sich um und sah sie für einen Moment sauer an –sie fürchtete schon, er würde ihr eine knallen. Dann aber begann er zu lachen.
„Was ist das denn?“ rief er Kelly zu und deutet auf sie.
„Lass sie rein, die arbeitet bei mir!“
Sie drückte sich an dem schwarzen Schrank vorbei in den Laden und verschwand im Hinterzimmer und zwischen Kellys Büchern. Die beiden Männer blieben im Laden und redeten mit gedämpften Stimmen. Sie hätte sowieso nicht zugehört. Von Kellys Geschäften interssierte sie nur die Seite, die aus Zahlen bestand. Den Rest ließ sie gerne im Dunkeln.
Nach zwei Stunden war sie fertig und Kelly gab ihr ihren Lohn.
Joe lud sie zum Essen ein – weil ihn schon lange niemand mehr zum Lachen gebracht hatte - und so begann eine seltsame und wunderbare Zeit: zum ersten Mal interessierte sich jemand für sie.
Joe hatte einen Narren an ihr gefressen – ob er sie eher als Schwester oder als Kind sah, ließ sich nicht herausfinden. Aber immer wieder musste er über sie lachen; das schien Grund genug. Er ging hin und wieder mit ihr essen – meistens, nachdem die Restaurants geschlossen hatten, wo sie immer ausgesprochen höflich und zuvorkommend behandelt wurden. Er fütterte sie mit großem Vergnügen, und sie aß so gut und so viel wie noch nie in ihremLeben – allerdings veränderte sich ihr Körper dabei nicht. Von dem Joe aber auch nichts wissen wollte; er machte den Kavalier, hielt Türen auf und half ihr in den Mantel und zahlte.Als sie einmal nach einem langen Arbeitstag und zwei Glas Wein zum Abendessen auf der Heimfahrt in seinem Schiffs ähnlichen Auto eingeschlafen war, trug er sie die Treppen hoch zu ihrem Zimmer, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte Gut Nacht.
Was er von einer Frau, einem Frauenkörper wollte, holte er sich woanders. Ein paar Mal sah sie ihn auf ihren Gängen durchs Viertel mit üppigen Blondinen, grell geschminkt und mit billigem Schmuck behängt. Die ersten Male fürchtete sie, er habe eine neue „Freundin“ und sie wäre passè; doch dann stand er wieder vor einem der Läden, wo sie Buchhaltung machte, oder auf der Treppe zu ihrer Mansarde und schleppte sie zu Kinovorstellungen oder Boxkämpfen.
Von Joe`s Geschäften wollte sie nichts wissen und seine Vergangenheit war nie Gesprächsthema. Er fragte sie auch nichts. Sie sprachen über das Leben der anderen, das sie aus Filmen oder den Klatschspalten der Zeitungen erfuhren.
Einmal betrat Joe ihr Zimmer, das er fast vollständig ausfüllte, und sah den schäbigen Koffer.
„Was ist da drin?“
„Alles, was man zum Überleben braucht.“
„Das ist aber wenig...“ meinte er. Sie stimmte zu.
Er brachte ihr Fresskörbe, ein Grammophon und einen Karton Dosenmilch, Eimer mit roten Rosen und einen Vogelbauer mit einem blauen Wellensittich. Im Sommer schleppte er einen Ventilator vor die Tür, der jedes Mal einen Kurzschluss verursachte, wenn sie ihn anstellte. Im Winter gab es warme Pullover und eine unglaublich weiche Wolldecke.
Sie ahnte, dass auch die Zeit mit Joe nicht lange dauern würde. So war es schließlich immer in ihrem Leben gewesen.
Eines Nachts klopfte er an ihre Tür. Bleich lehnte er im Rahmen und hielt sich die Seite.
„Frag nicht!“ presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich muss abtauchen – weiß nicht, wann und ob wir uns wiedersehen.“
Mit der freien Hand reichte er ihr einen kleinen Lederbeutel.
„ Zum Überleben!...pass gut auf ihn auf!“ Er lächelte sie noch einmal an und ging mit schwerem Schritt die Stufen hinab.
Sie schloss die Tür und legte den Lederbeutel in ihren Koffer, ohne ihn geöffnet zu haben.
Ein paar Tage machte sie sich Sorgen, dachte aber immer an Joe`s Stärke und dass er bestimmt irgendwann wieder auftauchen würde.
Als sie bei Kelly wieder die Abrechnung gemacht hatte und zu ihm an die Kasse trat, um ihren Lohn zu kassieren, schob er ihr die aufgeschlagene Tageszeitung hin. Dort las sie, dass man die Leiche eines Unterweltbosses aus dem Hudson gezogen hatte. „Durchlöchert wie ein Sieb“ und „Bandenkrieg“ nahm sie noch wahr, bevor sie in die Knie ging.
Kelly setzte sie auf einen Stuhl und gab ihr einen Whisky.
„War klar, dass es eines Tages so kommen würde... immer erwischt es die Besten... that´s life...“ murmelte Kelly und klopfte ihr ungeschickt auf die knochige Schulter.
Dann nahm er Geld aus der Kasse, deutlich mehr als ihr zustand, und drückte es ihr in die Hand.
„Wenn du klug bist, haust du ab. Man hat euch zu oft gesehen. Komm auf keinen Fall mehr hierher! ...du wirst mir fehlen!“ Damit zog er sie vom Stuhl und schob sie aus seinem Laden.
Zum ersten Mal in ihrem Leben weinte sie. Einen Tag lang lag sie auf ihrem Bett und weinte die Tränen eines ganzen Lebens. Als sie Schritte im Treppenhaus hörte, keimte erst Hoffnung in ihr auf und dann Angst.
Doch die Schritte blieben im unteren Stockwerk.
Dann stand sie auf und öffnete ihren Koffer. Sie nahm den Lederbeutel und entknotete die Schnüre. Obenauf lag ein Zettel und darunter glänzten ein halbes Dutzend kleiner Diamanten.
Auf dem Zettel stand in Joe´s ungelenker Handschrift ein Adresse in Amsterdam und „dem kannst du vertrauen, Joe“.
Da war ihr klar, dass sie schnell verschwinden musste.
Sie wusch sich ihr Gesicht und zog ihr altes, gutes Kleid an. Den Vogel trug sie zu einer Nachbarin und sagte, sie würde ein paar Tage verreisen. Den Lederbeutel rollte sie in ihre weiche Decke und packte sie in den Koffer. Schnell verließ sie das Haus und nahm sich ein Taxi. Das Geld von Kelly in der Manteltasche würde für einen Flug nach Amsterdam reichen.
Und das Geld für die Diamanten reichte für den Rest ihres Lebens, den sie in einem kleinen Haus auf der Insel Guernsey verbrachte. Den leeren Lederbeutel vergrub sie in ihrem Garten und pflanzte eine Rose darüber.
©tangocleo 2011