Das Tuch von Turin
Die Schreinerlehre habe ich noch beendet. Dann aber hieß es: nichts wie weg. Zu Hause brannte jeden Tag zweimal die Luft. Morgens, wenn mein Vater noch da war, und abends, wenn er wieder da war. Maria, meine Mutter, hat das alles tapfer ertragen und war immer noch mit Giuseppe zusammen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie eines Tages von einer Brücke gesprungen oder spektakulär in die Luft gegangen wäre.Inzwischen war ich über dreißig und sowieso nicht verantwortlich dafür, was andere Menschen taten. Auch nicht für meine Mutter. Es war ihr Leben. Jeder ist sich selbst der Nächste, das hatte ich gelernt. Gesagt hätte ich das allerdings niemals, das wäre schlecht fürs Geschäft gewesen.
Anfangs hatte ich verzweifelt versucht, als Schreiner unterzukommen. Es war aussichtslos. Ein einziges Mal konnte ich in meinem erlernten Beruf arbeiten, in einem Fischerdorf, wo ich mich einige Zeit mit Reparaturen und anderen Hilfsarbeiten durchschlug. Das reichte meist nur für ein paar Fische vom Vortag und ein Stück Brot. Manchmal habe ich das Essen vor lauter Hunger doppelt und dreifach gesehen, satter gemacht hat mich das aber nicht. Dass in dieser Zeit ein Schluck Wasser manchmal wie köstlicher Wein schmeckte, war nur ein schwacher Trost.
So bin ich in die nächste größere Stadt gegangen und habe die Leute da gepackt, wo sie am freigiebigsten sind: bei ihrer Gier. Hütchenspiele am Anfang, um ihre Geldgier anzuzapfen, Wunderheilungen am Ende, um ihre Gier nach Unsterblichkeit für mich zu vergolden.
Zwischendurch habe ich phantastische Geschichten erzählt, je verwegener, desto besser, und mir ihr Kleingeld in den Hut werfen lassen. Das war erst nicht mehr als ein nettes Zubrot. Viel wichtiger war mir, dass ich mir nur die schönste der Zuhörerinnen herauspicken und ihr das Gefühl geben musste, ich redete nur für sie, um sicher zu sein, dass sie mich später mit in ihr Bett nehmen würde.
Irgendwann brachte ich es zu einer solchen Meisterschaft in der Erzählkunst, dass ich mir damit die Taschen jederzeit füllen konnte. Ja, es reichte bald auch für meine armen Freunde, ein Dutzend Jungs aus dem Fischerdorf, die nichts anderes tun mussten, als mit mir zu reisen und, wo ich auch auftauchte, den Eindruck zu wecken, ich hätte bereits eine Schar von Zuhörern um mich versammelt, um in wenigen Augenblicken die drei- oder vierfache Zahl anzulocken.
Nach fünfzehn Jahren der Wanderschaft hatte es mich endlich nach Turin zurückverschlagen, in die Stadt meiner Eltern. Ich war meinem Vater in so Manchem ähnlich geworden, und doch nagten Zweifel an mir, ob er mein leiblicher Vater sei. So wenig ich ihm auch verdankte, ich wäre froh gewesen, wenn diese kleine Unsicherheit verschwunden wäre. Maria würde mich nicht von der Tür weisen, dessen war ich sicher. Ob sie mir auch meine Frage beantworten würde? Ich wusste es nicht.
Maria öffnete mir die Tür. Wie erwartet fiel sie mir nicht um den Hals, sondern bat mich nach einem tiefen Blick in die Augen ohne viele Worte herein. „Giuseppe ist nicht da.“, sagte sie, „Er ist in der Kirche.“ Seine Gewohnheiten hatten sich wohl nicht geändert. Hätte ich ihn angetroffen, wäre ich wohl sofort wieder gegangen.
Nach vorsichtigen und umständlichen, aber recht inhaltslosen Gesprächen bei einer Tasse Kaffee steuerte ich auf meinen Punkt zu.
Zähne zusammenbeißen. Alles wird gut. Jetzt oder nie, was kann schon passieren?
„Jetzt mal Klartext. Ich bin ja nicht doof. Ich sehe Giuseppe kein bisschen ähnlich. Er hat braune Augen, ich habe blaue. Ihr habt beide glatte Haare, ich habe Locken. Also: Wer ist mein Vater?“
„Sei doch froh, dass du nicht von diesem dämlichen Penner abstammst.“
Also doch. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das mit den Augen und Haaren bedeutet ja nichts. Ich habe es doch nur gesagt, um sie aus der Reserve zu locken. Hat sie früher auch schon so geflucht? Vielleicht nur, wenn ich nicht dabei war.
„Ich verstehe ja, dass du nicht gut auf ihn zu sprechen bist. Ich will es einfach wissen, dann lasse ich dich in Ruhe.“
„Nicht gut auf ihn zu sprechen? Ich lach mich tot. Den größten Bock hat er sich gleich bei deiner Geburt geschossen, der geizige Sack. Hab eh nicht verstanden, warum er mich in meinem Zustand unbedingt mitschleppen wollte. Aber nicht mal ein Hotel reservieren konnte er, wo doch klar war, dass die Stadt vor Besuchern aus allen Nähten platzt - das war doch die Krönung. Dann sind wir auch noch die ganze Nacht herumgelatscht, um etwas zu finden. Statt uns einfach auf unsere Koffer zu setzen und abzuwarten. Ich hab es zwar erst hinterher gehört, doch es liefen genug Leute herum, die einem ein Zimmer vermittelt hätten. Zu Wucherpreisen sicherlich, aber mein Gott: ich war fast im neunten Monat. Wenigstens dieses eine Mal hätte er den Igel in seiner Tasche ignorieren können. Aber nein, `Wir finden schon etwas, zu einem vernünftigen Preis`. Wie bescheuert war ich bloß? Ich hätte mich in dem Moment einfach wieder in den Zug setzen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden sollen. Stattdessen mach ich den Zirkus mit, reg mich immer mehr auf und krieg dann plötzlich Wehen. Wenn Du es genau wissen willst: zur Welt gekommen bist du im Wickelraum eines Schnellrestaurants.“
Nein, ich wollte nicht.
„Das ist wirklich ein starkes Stück. Trotzdem: ist er mein Vater?“
„Das Bescheuerte ist ja, mit Giuseppe ist überhaupt nichts gelaufen, nicht mal in der Hochzeitsnacht. Hat keinen hoch gekriegt und mir weismachen wollen, er hätte zu viel getrunken. Schlappschwanz. Ich hab instinktiv gedacht: Klasse! Fällst auf einen rein, der dich als Vorzeigefrau braucht, weil er zu feige ist, zu seinen Neigungen zu stehen. Kannst mir ruhig glauben, dass ich jeden hätte haben können, auch heute noch. Einige auch hatte. Aber so etwas war mir noch nie passiert, das stank doch zum Himmel. Und ich hatte Recht. Das hab ich aber erst kapiert, als ich ihn mit so einem Schmuddelmagazin erwischt hab.“
Ach du Scheisse. Ich glaube, das wollte ich auch nicht wissen.
„Oh. Das habe ich nicht geahnt.“
„Bestimmt nicht. Beim Versteckspielen ist er immer ganz vorne dabei. Als ich dann schwanger mit dir wurde, machte er plötzlich einen Riesenaufstand. Wie schizophren kann man eigentlich sein? Ich hätte ja auch sofort abgetrieben, aber wie sollte ich an das Geld dafür kommen? Hatte ja keine reichen Eltern im Rücken oder sowas. Und Giuseppe hat sich wohl ausgerechnet, dass er billiger wegkäme, wenn er den Namen des Erzeugers aus mir rausquetscht, und ihn dann für dich blechen lässt. Ich hab ihm gesagt: Reg dich wieder ab. Wahrscheinlich war ich nur auf dem Klo, nachdem du Perversling dir auf eins deiner Heftchen einen runtergeholt hast.“
Hat sie das aus der Fragenecke eines Jugendmagazins?
„Das stimmte aber nicht?“
„Natürlich nicht. Oder glaubst du an Wunder? Aber Giuseppe und seine ganze Mischpoke, der er stolz erzählt hat, ich wäre die erste schwangere Jungfrau - die glauben heute noch dran. Vollidioten.“
Klar. Denen könnte man auch erzählen, ein Geist hätte sie ins Ohr gefickt. Ich kann froh sein, von diesen Genen nichts abbekommen zu haben. Da fällt mir die Geschichte von Giuseppes Urahnen ein, die keinen Bauchnabel gehabt haben sollen. Wer zum Teufel glaubt so etwas ernsthaft?
„Gut. Wer ist es also?“
„Ich war doch auch ständig allein. Der scheinheilige Hurensohn ist ja in jeder freien Minute beim Pfarrer in der Kirche. Macht ja auch irgendwie Sinn, nicht? Da hat er seinen Spaß, meine Hand drauf. Und frische Jüngelchen gleich dazu. Widerlich.“
Das will ich nicht wissen. Ich will den Namen.
„Sag es einfach, bitte. Ich werde ihn nicht suchen und dich nicht weiter belästigen. Ich muss nur wissen, wer es ist, verstehst du das denn nicht?“
„Angelo Gabriele.“
Mir wird schwarz vor Augen. Der Postbote!
Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich diese Eröffnung getroffen hatte und verabschiedete mich bald von Maria. Es war bereits dunkel geworden, und so machte ich mich gleich auf den Weg zu der Taverne, in der ich meine Gefährten treffen wollte. Giuliano, eine verlorene Seele wie ich und auch in Turin aufgewachsen, hatte den Vorschlag gemacht, uns in der Stammkneipe seiner Jugend zu treffen. Es klang vielversprechend, was er da für erotische Abenteuer erlebt hatte.
Meine Gedanken überstürzten sich. Ich hatte wirklich geglaubt, ich würde mich im schlimmsten Fall nicht mehr damit trösten können, der Sohn eines anderen als eines solchen Ekels zu sein. Marias Eröffnung hatte mich völlig überwältigt. Ich beschloss, mich an diesem Abend bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken.
Unterwegs begann es wie aus Kübeln zu regnen. Das Wasser, viel zu viel für die marode Kanalisation, blieb in den Straßen stehen und spiegelte Häuser und Bäume wider. Zuweilen sah es so aus, als liefe ich auf der Oberfläche eines Sees.
Als ich endlich die Taverne betrat, fand ich zunächst keinen meiner Freunde. Endlich erspähte ich Giuliano, der mit zwei mir unbekannten Männern an einem Tisch saß und wild gestikulierend mit ihnen sprach. Man sah den Männern schon aus der Entfernung an, dass sie der Unterwelt angehörten. Das erschien mir seltsam, weil ich einerseits keine Frauen in der Gaststube ausmachen konnte, die doch sonst nie weit von solchen Gestalten anzutreffen sind, und andererseits die meisten der Gäste Carabinieri zu sein schienen, die gleich nach dem Dienst, noch in ihrer Lederuniform, herbeigeeilt waren, um ihren Feierabend zu begießen.
Sowie Giuliano mich bemerkte, brach das lebhafte Gespräch ab. Man bat mich Platz zu nehmen und schob mir einen Drink zu, den ich in einem Zug hinunterstürzte. Noch während ich das Glas abstellte, rief ich nach der Bedienung und ließ uns gleich eine ganze Flasche bringen, die alsbald ersetzt werden musste, nur um wenig später ihrer Nachfolgerin Platz zu machen. Die Musik, eine Mischung von Schmalz und Anzüglichkeiten, wurde lauter, je länger der Abend wurde. Ich hatte zuweilen sogar den Eindruck, es werde dazu getanzt.
Ich starrte in mein Glas, füllte es immer wieder auf und sprach wenig, bis sich schließlich drei riesige Soldaten in voller Uniform zu uns setzten. Römer, wie ihr Dialekt gleich verriet. Ihr offensichtlicher Anführer tuschelte mit Giuliano, die beiden anderen musterten mich und die zwei Ganoven stumm. Das letzte, das ich an diesem Abend mitbekam, war, wie jeder der Soldaten nacheinander in seine Tasche griff und Giuliano etwas zusteckte. Dann sank mein Kopf auf den Tisch.
Geweckt wurde ich durch die erbarmungslos gleißende Helligkeit der Mittagssonne, die auf mein Gesicht fiel, als die Vorhänge beiseite gerissen und die Fensterflügel nach außen gestoßen wurden.
Die Stimme einer älteren Frau rief: „Du liebe Güte! Hier stinkt es ja, als ob Sie seit drei Tagen tot wären. Ekelhaft! Die Schäden werden Sie mir aber ersetzen müssen!“
Ich sah mich um, obwohl mir jede Kopfbewegung unendliche Schmerzen bereitete, so als ob lange Dornen darin steckten. Dies war mein Zimmer, das Zimmer in der Pension, in die ich mich vor meinem Besuch bei Maria eingemietet hatte. Wie ich hierher gekommen war, lag, wie der restliche Verlauf der Nacht, hinter einem undurchdringlichen Schleier. Nach und nach stellten sich Schmerzen überall an meinem Körper ein. Die Gelenke meiner Hände und Füße waren mit Blutkrusten überzogen, in meinem Bauch schien ein Messer zu stecken. Am schlimmsten jedoch schmerzte mein Hintern.
Während ich noch versuchte, mir einen Reim auf das alles zu machen, streckte Giuliano seinen Kopf durch die Tür. Selten zuvor habe ich ein so schuldbewusstes Gesicht gesehen.
„Es tut mir Leid, wirklich. Aber du musst verstehen, dreißig Scheine sind verdammt viel Geld für mich, und ich war genau so voll wie du. Mitgenommen hätten sie euch sowieso, dagegen hätte ich gar nichts machen können. Da habe ich eben ausgenutzt, dass sie dachten, ich wäre euer Zuhälter. Ich dachte, ihr sollt ihnen einen blasen oder sowas. Ich hab doch nicht geahnt, dass sie euch so brutal aufs Kreuz legen und nageln wollen.“
Ich warf ihn wortlos hinaus. Er war nicht wert, dass ich mit ihm redete. Später erfuhr ich, dass er unter veschiedenen Pseudonymen mehrere Versionen einer angeblichen Geschichte meines Lebens veröffentlicht und nicht schlecht damit verdient haben soll. Nichts in diesen Büchern ist wahr.
Nach dieser Schande wollte ich nur noch eins: verschwinden und nicht wiedergesehen werden. Nachdem ich mich gewaschen, meine Wunden notdürftig verbunden und mich frisch angezogen hatte, fiel mein Blick noch einmal auf das Bett. Blutflecken dort, wo meine Hände und Füße gelegen hatten, Erbrochenes am Kopfende und schließlich ein großer Fleck aus einer Mischung von Blut und Urin in der Mitte meines Körpers. Die Wirtin hatte Recht: es war ekelhaft.
Als ich dann ging, ließ sie mich Bettzeug und Matratze zum Neupreis bezahlen, was ich bereitwillig tat, um ihrem Blick nicht länger als nötig ausgesetzt zu sein. Wie ich die geschäftstüchtigen Turiner aber kenne, wird sie die Sachen grob durchgewaschen und dann auf dem Flohmarkt verkauft haben.
Ich begab mich auf schnellstem Weg nach Genua, wo ich mich nach Indien einschiffen wollte. Dazu reichte mein Bargeld jedoch nicht, so dass ich zunächst nur bis Jiddah am Roten Meer reisen konnte. Dort und im etwas landeinwärts gelegenen Mekka füllte ich meine Reisekasse mit meinen Erzählungen, die ich mir auf der Überfahrt von einem Matrosen ins Arabische hatte übersetzen lassen.
Indien gefiel mir überhaupt nicht, obwohl ich alle größeren Städte dort besuchte. Das Essen dort bekam mir nicht, ich magerte ab und halluzinierte bald wie in meiner Zeit als Aushilfsschreiner, was mir von den Menschen dort aber umso reichlicher vergütet wurde.
Heute verbringe ich mein Leben, immer noch dann und wann Märchen erzählend, satt, rund und zufrieden im beschaulichen japanischen Ort Shingo, wo ich dereinst auch zu sterben gedenke.