Drehbuch
1.0>Sie hatten sich über das Internet kennengelernt.<
Unschlüssig sehe ich auf den Bildschirm. Ich muss anders anfangen; dieser Satz ist der langweiligste und überflüssigste, den man überhaupt schreiben kann. Der geht schon mal nicht. Immer diese blöden Ersten Sätze. Aber es hatte nunmal dort begonnen, und es ist nunmal eine ganz eigentümliche Art, sich kennenzulernen; auch, wenn es keine ungewöhnliche mehr ist. Außerdem wäre dieses Zusammentreffen ohne das Netz sehr unwahrscheinlich gewesen. Zumindest in der Weise, wie wir es inszenierten.
Ich lehne mich also wieder zurück – und gehe zurück; in Gedanken versetze ich mich in die Morgenstunden dieses Tages. Ich sehe mich am Bahnsteig, auf den 8-Uhr-Zug nach S. wartend. Schräg hinter mir höre ich einen dumpfen Laut und die erschreckte Stimme eines Mannes. Er hatte die junge Frau fallen sehen, die jetzt bewusstlos auf dem Rücken liegt. Ihr Brustkorb bewegt sich pumpend, so als kotze sie gleich. Sie hatte in der Raucherzone gestanden, als ich vor wenigen Minuten dort angekommen war. Unsere Blicke hatten sich ein, zweimal gekreuzt, und mir war aufgefallen, daß sie sehr müde aussieht. Womöglich hat sie die Nacht nicht geschlafen. Jetzt ist sie umringt von vier Leuten, die sie in die Seitenlage bringen und auch ansonsten zu wissen scheinen, wie zu handeln in so einem Fall.
Der Zug fährt ein. Ich sitze in einer Regionalbahn mit Bänken. Mir gegenüber sitzt eine Frau, die noch etwas vor sich hindöst wie fast alle hier. Sie ist Anfang Zwanzig, so jung, wie die Frau vom Bahnsteig, und merkwürdigerweise ähnelt sie ihr sogar; schulterlanges, schwarzes Haar, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, leicht überschminkte Augen mit dunklen Lidschatten und kräftigem Kajalstrich. Ein Gedanke drängt sich kurz in den Vordergrund; hat es was zu bedeuten, daß ich heute eine junge Frau mit einem Kollaps am Morgen sehe und mir jetzt eine zweite gegenübersitzt, die der ersten auffallend ähnlich sieht? Ich habe solche Ideen immer wieder mal. Dieser Aberglaube sitzt mir wie ein Rudiment in den Knochen und blitzt immer mal in Situationen auf, in denen etwas Wichtiges bevorsteht und ich nicht sicher sein kann, daß es glücklich ausgeht.
Ich sehe aus dem Fenster und springe mit den Augen von einem fliehenden Punkt der Landschaft zum nächsten, und nach kurzer Zeit bin ich mit meinen Gedanken an F. so beschäftigt, daß ich die vorbeiziehende Welt nicht mehr wahrnehme. Sie war es, die den Kontakt aufgenommen hatte. Sie schickte mir eine Nachricht, in der sie irgendwas zu meinem Profil schrieb. Vielleicht war es auch ein Kommentar zu einer der Zeichnungen, die ich auf einer Homepage veröffentlicht habe – ich weiß es nicht mehr. Eine Zeitlang war ich etwas unschlüssig, wie ich diesen Kontakt einschätzen wollte. Daß sie ein eindeutiges Interesse zeigte, schmeichelte mir, und daß sie selbst mit Kunst zu tun hat, sorgte in den Momenten für Gesprächsstoff, in denen sie nicht flirtete. Doch meine innere Distanz mochte ich nicht aufgeben, und dafür gab es nur einen Grund; sie ist um Einiges jünger als ich. Für ein Verwandtschaftsverhältnis reichte es zwar nicht, aber meine Grenze überschreitet sie. Ich überlege, an welchem Punkt ich meine Bedenken wohl beiseite geschoben haben mag.
Es wird diesen Moment nicht gegeben haben, denn es war ein teils behutsamer, streckenweise aber auch stürmischer Vorgang des Kennenlernens und der Annäherung. Und was sich in der Zeit der Mails und Telefonate entwickelt hatte, war eine Unterhaltung unter Freunden, die sich zwar auch zunehmend begehrten, aber eben nicht nur begehrten. Es war ein Flirt, ein Gespräch über die unterschiedlichsten Dinge; private und berufliche, ernste, künstlerische und solche Dinge, die mit Lebensplänen zu tun haben. Wir schrieben und sprachen offen und ohne Umschweife. Damit wurden wir einander vertraut auf eine Weise, die einige der herkömmlichen Phasen, die Fort- und Rückschritte und vor allen Dingen die gemeinsam erlebten Zeiten scheinbar überbrücken konnte. Die Idee, die wir für das Treffen entwickelten und in die Tat umsetzten, ist das Ergebnis dieses Vertrauens; ein Drehbuch.
1.1
Der Cursor blinkt im Sekundentakt an der Stelle, wo gerade noch ein überflüssiger Satz gestanden hatte. Ich muss irgendwo anfangen. Vielleicht mit der ersten Mail von ihr? Oder mit der Bahnfahrt und der kollabierenden jungen Frau auf dem Bahnsteig? Ich nehme nur das Geschehen in ihrer Wohnung und fange mit der offenstehenden Tür an.
Und wo ende ich? Mit dem Moment, in dem wir uns das erste Mal ansehen. Oder mit dem Ende des ersten Aktes? Beschreibe ich auch das lange Gespräch danach, in der Küche auf dem Sofa sitzend und in Bademäntel gekleidet, gefolgt vom zweiten Akt? Erzähle ich desto weniger, je mehr ich schreibe? Was will ich überhaupt erzählen?
Das Drehbuch ist nur ein kurzer Entwurf; zu kurz, um Falten zu werfen. Es erzählt nichts. Es nennt ein paar Bedingungen, nach denen sich etwas entfalten kann, mehr nicht. Und was sich entfaltet hat; ist es das, was ich erzählen will? Ja, ich glaube, das ist es.
Was in einem knappen Skript mit ein paar Bedingungen vorgezeichnet ist, die wie Eckpfeiler ein kleines Feld umstehen, auf dem es sich entfalten kann. Ein kleines Feld, fast so klein wie ein Bett.
Das ist die eigentliche Bedingung, und deshalb nur ein knappes Buch. Es wird sich danach kein weites Feld auftun. Sehr wahrscheinlich wird sich keines auftun. Auch, wenn es ein weiteres kleines Feld geben würde.
2.0
Die Tür zur Wohnung ist nicht angelehnt, sondern steht fast sperrangelweit offen, was an den windschiefen Wänden liegen muss. Im Flur finde ich das Original vom Flurbild, das sie mir zur Orientierung zuschickte; Schuhe, Jacken und Taschen, die Tür zur Toilette, und rechts von ihr die geschlossene Tür zum Schlafzimmer. Hinter dieser Tür, vielleicht vier Meter von mir, liegt sie jetzt unter einer beigefarbenen Tagesdecke und lauscht. Die Bohlen unter meinen Schuhen knarren leise; sie wird hören können, wohin ich mich bewege. Sonst ist es absolut still. Ich hänge die Jacke an die Garderobe und verschwinde kurz im Gästeklo, wo mir diese Stille etwas kompromittierend vorkommt. Ich sitze in diesem winzigen Raum und lausche. Mit der Hand lenke ich meinen Strahl etwas zur Seite, um möglichst kein Geräusch zu verursachen. Hätte ich das doch nur im Zug erledigt. Es hat aber auch etwas für sich; ich bin hier, bei ihr, in ihrer Wohnung, und ich weiß, daß sie jedes Geräusch verfolgt und sich leicht vorstellen kann, was ich gerade mache. Sie ist bei mir, ganz Ohr, und sie hält den Atem an.
Ich stehe an der Tür zum Schlafzimmer und drücke die Klinke. Mein Blick fällt sofort auf die Tagesdecke, die eine sehr weibliche Figur verhüllt – getaucht in das Licht der Morgensonne, das den Raum im Ocker-Orange der Wände flutet. Ohne den Blick abzuwenden schließe ich die Tür. Sie hat sich auf die linke Seite gelegt, diagonal über das ganze Bett hin ausgestreckt, mit dem Rücken zur Tür. Die Decke umschmiegt ihren Körper und bildet über ihrem Becken einen Hügel, von dem zwei Ausläufer zu den gegenüberliegenden Ecken des Bettes fließen. Ich habe einen klitzekleinen Impuls, diese Decke behutsam zur Seite zu ziehen und diese Frau zu enthüllen, um zu sehen, wie sie aussieht.
Stattdessen gehe ich an ihr vorbei zur Fensterseite des Raumes, an der die Kommode und der Liegesessel stehen. Erst jetzt bemerke ich, daß ein Player auf der Kommode steht und eine leise Musik zu hören ist. Ich setze mich auf die Liege und beginne, mich auszuziehen. Die Schuhe stelle ich vorsichtig zur Seite, damit die Absätze nicht zu laut auf den Holzboden tocken. Und doch ist es das lauteste Geräusch, das sie in sich aufsaugt, während sie mir beim Ausziehen zuhört. Nackt bleibe ich noch ein paar Sekunden sitzen und sehe hinüber. Weiß der Himmel, warum ich diesen Moment will.
Sie scheint sich nicht bewegt zu haben bis jetzt, wo ich neben ihr stehe. Ich sehe dieses Relief an und stelle mir ihren Körper vor, wie er wohl ohne Hülle aussieht. Ihr rechter Fuß lugt mit rotlackierten Nägeln hervor. Ich knie mich hin, ziehe den Saum der Decke etwas zur Seite und streiche mit der Hand über ihren Spann, umgreife ihre Fußballen und lege meine Lippen an ihre Zehen. Sie kommt mir etwas entgegen und bewegt ihr Bein, und zum ersten Mal meine ich, ihren Atem zu hören. Ich mag ihren Geruch, und nach einer Reihe von behutsamen Küssen auf ihre Zehenspitzen lasse ich ihren großen Zeh in meinen Mund gleiten. Ich glaube, ich hatte noch nie einen Zeh im Mund. Es ist ein schönes Gefühl, viel intimer, als ich mir vorstellte. Ich sauge leicht an ihm und lasse meine Zunge an seinem Ballen entlangstreichen. Ein ganz leises, zartes Stöhnen vom Kopfende des Bettes lässt einen Schauer über meinen Rücken streichen. In diesem Moment löst sich mein letzter Zweifel auf, und ich fühle eine Sicherheit und Freude, daß alles, was wir jetzt tun werden, für uns beide schön sein wird.
Sie hat hinreißende Beine. Ich lerne sie kennen mit einer Reihe von Küssen, die ich von ihrem Fuß über die Fessel hinauf zur Wade lege. Mit einer Handbewegung, die mir nicht gleich gelingen will, ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Ich will sie nicht wegschieben und diesen Frauenkörper nicht Stück für Stück entblößen; ich will unter sie schlüpfen, um mit ihr unter dieser Decke zu stecken. Ich will mit ihr verhüllt sein, geborgen im Schutz eines Versteckes, aus dem alles andere ausgeschlossen ist und doch genügend Tageslicht hereinfällt, um sehen zu können. Langsam dreht sie sich von der Seite auf den Rücken, öffnet diese wundervollen Beine ein wenig, und ich rücke etwas weiter auf das Bett, schlüpfe ein Stück tiefer unter die Decke und spüre deutlicher den Duft, den sie ausströmt.
Ich dringe zu einer Höhle vor und bin im lichtdurchfluteten Gewölbe, das sich in einem Berg auftut. Der eigentliche Eingang liegt verborgen; dort, wo sich die massiven, wie von einem Fluss über ewige Zeiten hinweg geformten Bögen berühren. In mir mischt sich Erregung mit einem ungewöhnlichen Stolz; ich bin es, dem sie erlaubt, das hier zu teilen. Ich fühle die Zeit auf eine neue, unbekannte Weise verstreichen. Sie zieht dahin, unwiederbringlich, aber sie ist satt von jeder Sekunde, die sie mit sich nimmt, und ich selbst bin angefüllt mit jedem Moment.
Ich liege auf dem Bauch, zwischen ihren Waden, und meine Arme umschmiegen ihre Beine, meine Hände berühren die Haut ihrer Schenkel und meine Augen ziehen über die weich fließenden Wölbungen an ihrem Knie hinab zu ihrem Fuß. Ich drehe mich etwas auf die Seite, öffne leicht meinen Schritt und ziehe mit der Hand behutsam ihren Fuß zwischen meine Schenkel. Die Berührung löst diese unerträglich heißkalte Welle aus, die mir bis in die Haarspitzen geht. Ich muss jetzt zu ihr, drehe mich wieder um und komme ihrer Venus etwas näher. Mein Atem streicht über ihren Hügel, und langsam öffnet sie ihre Schenkel. Ich ziehe ihren Geruch tief in mich hinein und lasse den Atem wieder über sie strömen.
Lange zögere ich es hinaus, bis ich einen ersten, hauchzarten Kuss auf ihre Lippen setze. Nicht gleich, aber bald werden wir uns das erste Mal ansehen, und dann wird es sich irgendwie verwandeln. Ich denke nicht darüber nach. Ich küsse sie, taste hinein, fahre an ihren Innenseiten entlang und erspüre ein um’s andere Mal, was sich hinter diesen fleischigen Lippen verbirgt, bis ich endlich an ihr hinaufziehe, über ihren Bauch und ihren Busen zu ihrem Gesicht, um sie zu sehen. Sie aber will noch nicht. Mit geschlossenen Augen dreht sie sich an meinem Gesicht vorbei und an mir hinab, um selbst zu tun, was ich ihr bereits voraus habe; den Liebhaber zu lecken, bevor man ihn überhaupt angesehen hat.
kamm