Luises Geschichte
Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten. Luise wurde 1910 geboren und war das zweitjüngste von 11 Geschwistern, sechs Jungs und fünf Mädchen. Von den Mädchen erreichten zwei durch Krankheit nicht das 10. Lebensjahr, und aus dem 2. Weltkrieg kamen nur vier der sechs Eingezogenen lebend – wenn auch versehrt – zurück. Ein weiterer starb kurz nach dem Krieg bei einem Unfall.Der kleine Landwirtschaftsbetrieb ihrer Eltern wurde nach deren Tod von zwei unverheirateten Brüdern weitergeführt, denen Luise den Haushalt versorgte, denn auch sie hatte keinen Mann zum Heiraten gefunden.
Kirche war Luise ziemlich egal - im Gegensatz zu einer Schwester Albertine, die besser ins Kloster gegangen wäre, aber stattdessen als Haushälterin auf einem großen Hof schalten und wollten konnte. Sie sprach von nichts anderem als Sünden und Demut und warnte ihre arme Familie wegen jeder Kleinigkeit sauertöpfisch vor der Strafe Gottes, die folgen würde.
Luise ging in die Messe, und küsste dem Dorfpfarrer den Ring, wenn er auf einen Kaffe und Schnaps reinschaute, weil man das so tat. Man betete aber zuhause nicht vor jedem Essen und sie und ihre Brüder waren bekannt dafür, dass sie gern feierten und sich gegenseitig aufzogen mit einem derben Bauernhumor, der für viele amüsante Anekdoten sorgte, die man sich noch Jahre später in der Dorfkneipe erzählt. Wenn Albertine zu Besuch kam, mussten sie beichten, beten und sittsam leben, bis sie wieder weg war, wonach meist ein Fest mit den Nachbarn gefeiert wurde, das rasch zu einem Trinkgelage auswuchs.
Mäus wurde Luise auf plattdeutsch genannt, weil sie sich wie ein Mäuschen lange unauffällig, aber beobachtend in der stille Ecke hielt, bis sie einschritt, dann aber konnte sie Machtworte sprechen, vor denen ihre Brüder und Nachbarn Respekt hatten. Sie war nicht unansehnlich, doch trug sie ihr hüftlanges, hellbraunes Haar immer nur zu einem strengen Knoten hochgesteckt und außer bei Festen sah man sie zeitlebens in einfachen Kleidern mit bunten Schürzen drüber und fast immer in Gummistiefeln, wenn sie im Stall aushalf, oder hölzernen Pantoffeln, wenn sie ihm Haus werkelte. Bei den zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten gefeierten Dorffesten konnte sie einen Mann unter den Tisch trinken und soll sogar mal einen verprügelt haben, der sie gegen ihren Willen umarmt hatte.
Wie sie nun doch an ein Kind kam, wo sie doch nie heiratete, wunderte die kleine Enkelin Lou, die nach ihr benannt wurde, als sie ins Fragealter kam. Irgendwann wollte sie wissen, wieso ihre Mutter keine Geschwister hatte, wieso denn die Großonkel Walter und Leo, die für sie wie zwei Opas waren, beide mit Oma Luise zusammenwohnen konnten und sie alle den gleichen Nachnamen hatten.
Oma Luise war damals fast siebzig und kränklich. Lou, ihre Lieblingsenkeltochter schlief ab und zu bei ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten, und weil die Familie sich um ihren Gesundheitszustand Sorgen machte. Sie legten sich gemeinsam in dem großen, an einer Seite sonst unbenutzten Ehebett zum Schlafen hin, in dem die alte Frau gegen gleich drei aufgehäufte Kissen fast sitzend zu schlafen pflegte, da sie Angst davor hatte, nicht mehr aufzustehen, wenn sie sich jemals über Nacht flach hinlegen würde.
Über dem Bett hing ein riesiger Druck vom Abendmahl, das von dem kleinen Mädchen eingehend studiert wurde, wenn es durch die wuchtigen Möbel und die dunkle, etwas muffige und nach Kölnisch-Wasser riechende Umgebung eingeschüchtert nicht schlafen konnte. Doch meistens erzählten sie sich noch bis tief in die Nacht Geschichten, die eine von früher, die andere von dem, was sie alles mit ihrem Leben anfangen wollte.
Da hat Luise dann auf die nicht endenwollenden Fragen des Mädchens erzählt, dass sie mit Walter und Leo, ihren Brüdern lebte, weil die nun mal leider keine Frau hatten, die für sie sorgen konnte. Und zum ersten Mal angedeutet, sie selbst hätte zeit ihres Lebens nur einmal einen Mann kennengelernt, den sie hätte heiraten wollen. Leider hätte das nicht geklappt, aber ein Kind hätte er ihr gemacht, und darüber wäre sie sehr froh, denn sie hätte ihre Tochter und deren Familie, die sich nun um die alten Leute kümmerte, sehr lieb. Mehr wollte sie dazu nicht sagen und der kleinen Lou reichte das auch fürs Erste.
Lous Mutter Cäcilie erzählte ihr später nach und nach, wie das gekommen war.
Oma Luise war bereits 36 Jahre alt, eine alte Jungfer, wie man es damals nannte, als ein Dachdeckermeister aus der nächsten Kreisstadt sich für einige Reparaturen am Stallgebäude, das direkt an die Küche angeschlossen lag, für ein paar Tage bei den Geschwistern einquartierte. Er soll ein fescher Bursche gewesen sein, und Luise sogar auf der gerade stattfindenden Kirmes zum Tanzen aufgefordert haben. Die Nacht darauf verbrachten sie dann wohl zusammen. Nicht in ihrem Bett – es war undenkbar, dass ihre Brüder das zugelassen hätten, also kann man sich eher vorstellen, dass die beiden sich ein Strohlager auf dem Dachboden bereitet haben, oder es vielleicht in der freien Natur dazu kam – die ältliche Jungfrau erlebte doch noch die Liebe.
Das reimte sich Lou jedenfalls daraus zusammen, da Luise ihr gegenüber schließlich erwähnt hatte, dass sie ihren Großvater hätte heiraten wollen. Vielleicht ist es aber auch nur die Romantik, die ein junges Mädchen gern darin sehen wollte.
Das junge Glück war aber keins mit Zukunft – er konnte sie nicht heiraten, nicht mal freien, wie es sich gehörte, denn – der Mann war verheiratet. Als sich wenige Wochen später herausstellte, dass Luise schwanger war, wurde ein Familienrat abgehalten und die älteste, verheiratete Schwester Hedwig übernahm das Kommando. Später wurde sie Lous Lieblingstante, eine weise und liebe Frau mit verschmitztem Humor, die sich durch nichts und niemanden die Freude am Leben nehmen ließ und immer im ironisch gefärbten Clinch mit den alten Leuten im Dorf und vor allem mit Albertine lag, wenn die mal wieder allen sauertöpfisch vorhersagte, sie würden alle in der Hölle landen.
Hedwig erfuhr den Namen des Kindesvaters, fuhr zu ihm – ohne Luise – und stellte ihn vor vollendete Tatsachen. Er hätte mit ihrer Schwester ein Kind gezeugt und müsse nun, wenn er sie schon nicht heiraten könne, zumindest einen Beitrag zu dessen Erziehung leisten, bis es erwachsen sei. Das war 1946, und vielen ging es schlecht, die kriegsversehrten Brüder bekamen eine kleine Rente und Luise lebte mit ihnen davon und von ihren paar Kühen sehr schlicht. Dem Herrn Dachdeckermeister ging es jedoch gut, er hatte die Tochter seines Chefs geheiratet und war nicht arm.
Aus den Erzählungen von Hedwig erfuhr Lou, dass seine Gattin, die bei dem Gespräch zugegen war, ihr die Hand darauf gab und es für eine Ehrensache hielt, dass ihr Mann zahlen würde, sie würde persönlich dafür sorgen, wenn nur nichts darüber in ihren gesellschaftlichen Kreisen bekannt werden würde. Unterhaltszahlungen gegen Geheimhaltungsverpflichtung. Über Kontakt mit dem Kind war keine Rede, darauf legte keine der Parteien irgendeinen Wert.
Als Luise im September 1946 zur Geburt ihrer Tochter in die Klinik der nächsten Kreisstadt eingeliefert worden war – das Krankenhaus ihrer Stadt war noch im Wiederaufbau, da völlig zerbombt – lag sie ein paar Tage auf einem Mehrbettzimmer, in dem sie besucht werden konnte. Eine Frau im Bett neben ihr hatte am gleichen Tag, fast zur gleichen Stunde einen Jungen geboren – beide Kinder waren schmächtig und hatten bereits einen vollen, krausen Haarschopf. Was in Luise vorging, als sie dort lag und mit ansah, wie der Ehemann der Bettnachbarin hereinkam, seine Frau mit Kuss begrüßte und beglückwünschte und voller Stolz seinen Stammhalter bewunderte, den er in die Arme gedrückt bekam, wird niemals jemand genau sagen können.
Es war der Dachdeckermeister. Er hat Luise mit keinem Blick gewürdigt und seine Tochter nicht angesehen. Vielleicht hat er sie auch nicht mal erkannt und vielleicht war das Luise ganz recht so. Sicher hat sie ihn nicht darauf aufmerksam machen und der netten Frau ihr Glück nicht vermiesen wollen, indem sie ihn in dieser hochnotpeinlichen Situation zur Rede stellte. Hedwig hat ihn auch gesehen, als sie an diesem oder einem anderen Tag zu Besuch war, und sie kannte er, also müssen er und seine Fraue es gewusst haben. Aber man ging sich aus dem Weg, wie besprochen und sagte kein Wort dazu. Wie es auch in der Familie ein Tabu blieb, davon zu sprechen. Erst als die kleine Lou zu fragen anfing, war man bereit, darüber zu reden, in Bruchstücken und nach und nach, da der Skandal, den die Sache im Dorf erst darstellte, nun mal am besten totgeschwiegen würde.
Luises Tochter Cäcilie blieb klein und zierlich, mit einem dunklen Lockenschopf, den sie nur von seiner Seite der Familie geerbt haben konnte. Als Jugendliche sah sie einmal im „Bravo-Magazin“ ein Foto ihres Halbbruders, der es bei einem Ähnlichkeits-Wettbewerb eines Sängers unter die ersten drei geschafft hatte. Man erkannte deutlich die Ähnlichkeit und sie bewahrte das Foto im Familienalbum. Sie kannte den Namen der Familie, der Dachdeckerbetrieb hatte sich erweitert, war bekannt und erfolgreich, sie hätte ihren Vater jederzeit besuchen und kennenlernen können. Doch ihre Standard-Antwort auf Lous Frage, ob sie denn gar nicht neugierig sei, war immer „Er hat mich nicht sehen wollen. Warum sollte ich dann etwas mit ihm zu tun haben wollen? Er war mein Erzeuger, kein Vater.“
Luise starb mit 73 schon vor fast 30 Jahren. Viel später, mit über 60 bekam Cäcilie noch einmal eine Chance, doch noch Kontakt zu ihrem Bruder herzustellen, der am gleichen Tag geboren wurde wie sie. Eine ihrer Kegelschwestern erzählte beiläufig von einem Mann, der zu ihrem Bekanntenkreis gehörte und immer so tolle Partys veranstalten würde. Sie wurde hellhörig bei dem Namen, ließ sich mehr erzählen und erfuhr, dass ihr Vater seit Jahren verstorben war, die Mutter ihres Bruders aber immer noch lebte. Der Bruder hätte nie geheiratet und keiner wüsste, wem er die erfolgreiche Firma, die er mit seiner Mutter zu einem weit über die Grenzen des Kreises hinaus geschätzten Unternehmen aufgebaut hatte, nachdem sein Vater gestorben war, einmal vererben würde. Doch das interessierte Cäcilie nicht – sie blieb dabei, dass sie nichts brauchte und nichts wollte von ihm.
Die Kegelschwester organisierte es so, dass Cäcilie ihn erst mal von Weitem sehen könnte, ohne sich gleich vorstellen zu müssen. Sie sollte nur auf einer Gesellschaft auftauchen, als Gast ihrer Freundin, bei der auch er anwesend sei. Cäcilie erzählte es Lou, die am liebsten mitgegangen wäre, und sie dazu ermunterte, ihm einfach die Hand zu schütteln und von ihrer gemeinsamen Vergangenheit und ihrem Vater zu reden. So könnte sie endlich erfahren, was für ein Mensch er gewesen sei, ob er jemals auch auf sie neugierig gewesen war, ob ihr Bruder ihr wirklich ähnlich war und so weiter. Doch Cäcilie hatte Bedenken.
Sie lebte schon so lange mit dem Gedanken, dass sie nicht gewollt gewesen war, dass diese Männer, Vater wie Bruder, immer Fremde bleiben würden. Sie ging nicht hin. Ein Foto, dass die Freundin von ihm unbemerkt bei dem Fest aufgenommen hatte, zeigte sie ihrer Tochter Lou und lachte dabei: „Siehst du, wie klein er ist? Und die Nase hat er wohl von seinem Papa, die ist genauso spitz und lang wie meine.“
Lou verstand nicht, dass sie nicht mit ihm hatte reden wollen, aber selbst machte sie auch keinen Schritt, um den Onkel kennenzulernen, der wahrscheinlich nichts von ihrer Existenz wusste. Es beschäftigte sie, wenn mal wieder die Rede von Genealogie und über Generationen vererbte Charakterzüge war, da sie von dieser Seite ihrer Herkunft gar nichts wusste. Doch wie wohl auch viele Adoptivkinder dachte sie sich, bestärkt durch die unkomplizierte Art, mit der ihre Mutter zeitlebens damit umgegangen war, dass ihre Wurzeln einfach kürzer waren, als bei anderen und sie die Chance hatte, ihre Geschichte mit ihrer erst anfangen zu lassen, ohne Vergangenheit, aber auch ohne Lasten.
Denn glücklich waren Luise und Cäcilie doch auch ohne das geworden.