Familiendelegationen
Hätte jemand von ihr verlangt, diese Familie zu beschreiben, dann wäre das Ergebnis Ratlosigkeit gewesen. Wie hätte sie auch Worte finden sollen, um diese lauthalse Sprachlosigkeit, diese Mischung aus abweisender Stummheit und aufgesetzter Fröhlichkeit, dieses Nebeneinander von ostantativ zur Schau getragenem Zusammenhalt und absoluter Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen auch nur halbwegs angemessen zu erläutern?Sie sehnte sich danach, die Gründe für all das zu verstehen. Das, so glaube sie, würde es ihr einfacher machen, all den Ballast erst zu akzeptieren und dann abzuwerfen. Doch jeder Versuch, der Geschichte auf die Spur zu kommen, scheiterte an einer Mauer aus Schweigen, die alle Beteiligten zwischen sich und der Vergangenheit errichtet hatten.
„Das ist schon so lange her! Ich lebe für die Zukunft!“ - Der Bau und die Verteidigung des antifaschistischen Schutzwalls war nichts im Vergleich zu dem mentalen Aufwand, der hier betrieben wurden, um den Schmerz zu ignorieren, und – falls das nicht gelang – ihn in der tiefsten Ecke der Erinnerung zu verstecken, um ihn dann möglichst klein zu reden. - „So waren eben die Zeiten!“
Diesmal traf sie dieses resignierende Totschlagargument wie ein Peitschenschlag. Muss der Schlussläufer im Staffellauf wirklich wissen, wer den Stab zuerst in die Hand nahm? Und gesetzt der Fall, der Stab bestünde aus glühendem Eisen? Würde es wirklich den Schmerz in der eigenen Hand lindern, wenn sie wüsste, durch welche Hände er vorher ging?
Sie spürte die Wut darüber, dass er ihr ungefragt in die Hand gedrückt worden war und erkannte: In dem Wissen, dass es weder mit Absicht noch mit Vorsatz geschehen war, lag die große Verführung, den Schmerz beiseite zu legen.
Doch mit dem Schmerz ist es wie mit der Bügelwäsche: eines Morgens steht man nackt da. Und da das dringend benötigte Kleidungsstück ganz unten liegt, gerät der Berg ins Rutschen – sofern man nicht aufgibt und sich im Bett versteckt. Wenn man dann nur ein Einzelteil bügelt, versinkt die Wohnung im Chaos. Und spätestens die nächste Waschmaschinenladung sorgt dafür, dass dieser Berg unaufhaltsam weiter wächst.
Sie lachte laut und herzhaft über diesen Vergleich und beschloss, ihn einzuladen – den Schmerz.
© sylvie2day, 26.08.2011