Wahre Lebenskunst?
I tell you, the more I think, the more I feel that there is nothing more truly artistic than to love people. ~ Vincent van Gogh
„So, du bist also Musiker? Interessant. Was für ein Instrument spielst du denn?“
Jeannette versuchte, ihre Frage so cool wie möglich klingen zu lassen – sie konnte sich das erlauben, die Spröde zu spielen, schließlich hatte dieser Mann sie eingeladen. Doch war sie viel nervöser, als man ihr ansah und ihm durfte das nicht auffallen.
„Ich bin Pianist.“, sagte er und sie nickte beflissen, während ihr weitere Fragen auf der Zunge brannten. Ob er jemals für sie spielen würde?
Er war als guter Kunde in der Buchhandlung, in der sie arbeitete, schon öfter mit ihr ins Gespräch geraten, doch nie hatten sie sich richtig vorgestellt oder über Privates gesprochen. Immer, wenn sie ihn reinkommen sah, straffte sie ihre Schultern, zupfte sich die Kleidung zurecht und leckte sich die Lippen, atmete tief ein und versuchte ihr Möglichstes, auf seine anspruchsvollen Wünsche die richtigen Antworten zu finden. Sie wollte ihm gefallen, diesem geheimnisvoll wirkenden, gutaussehenden Mann mit dem exquisiten Geschmack.
Niemals hätte sie sich getraut, ihn anzusprechen, außer mit professioneller Absicht wie „Das Buch, nachdem Sie letztens gefragt haben, ist jetzt übrigens eingetroffen.“ Er würde sie nur auslachen, wenn sie ihn merken ließ, wie interessiert sie war. Und außerdem war er garantiert vergeben.
Doch jetzt hatte er sie auf einen Kaffee eingeladen. Nachdem sie die Köpfe über dem Bildschirm zusammen gesteckt hatten, um sich die Auswahl zum Thema `Entdecker des 19.Jahrhunderts` anzusehen, so nah beieinander, dass ihr sein Geruch auffiel, angenehm auffiel, hatte er sie gefragt:
„Wann haben Sie eigentlich Feierabend? Haben Sie etwas vor, oder hätten Sie vielleicht Lust mit mir einen Kaffee trinken zu gehen? Dann könnten wir uns weiter darüber unterhalten. Sie haben immer so interessante Tipps.“
Er hatte sie angelächelt und sie hoffte inständig, dass sie nicht nur über Literatur reden würden, als sie zusagte. Eine Stunde später schloss sie, wie immer die letzte der drei Kollegen, den Laden ab, und erschrak, als er plötzlich hinter ihr stand. Es hatte angefangen zu regnen und er bot ihr Schutz unter seinem langen Mantel, den er über ihre Köpfe spannte.
Lachend rannten sie gemeinsam das kurze Stück zu dem nahen Café, schon vertraut miteinander, bevor sie seinen Vornamen wusste. Paul, sagte er kurz darauf und schüttelte ihr lächelnd die Hand.
Dann ging alles ganz schnell. Sie duzten sich, erzählten sich ihre Lebensgeschichten in groben Zügen, entdeckten noch mehr Gemeinsamkeiten als Lieblingsschriftsteller und bemerkten neben der Tatsache, dass sie viele Interessen teilten, auch, dass sie sich gegenseitig mehr als sympathisch fanden.
Als sie sich viel später vor der Tür des Cafés verabschiedeten – er wohnte nicht weit, sie nahm die Straßenbahn nach Hause - waren sie für den nächsten Abend zum Essen verabredet. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, der für Außenstehende vorsichtig und freundschaftlich aussah. Doch sie spürte seine warmen Lippen länger als für ein normales Küsschen auf ihrer Wange und dabei streichelte seine Hand leicht ihre Hüfte.
Sie aßen chinesisch bei der nächsten Verabredung und diesmal küssten sie sich richtig. Sie ging mit in seine Wohnung, wo sie die Nacht verbrachte. Sie schwebte wie auf Wolken und fühlte sich großartig, als sie nach einem Frühstück in seinem Bett, unterbrochen von vielen neckischen Küssen, in den gleichen Kleidern wie am Tag zuvor auf der Arbeit vor sich hin grinste.
Er hatte gerade keinen Job, lebte von einer Unterstützung und spielte ab und zu Klavier in der einen oder anderen Hotellobby oder bei Empfängen. Sie merkte schnell, dass er sehr wenig Geld zur Verfügung hatte und fand es selbstverständlich, ihm auszuhelfen.
Sätze wie „Wir brauchen nicht auszugehen, ich koch dir etwas Leckeres bei mir.“ kamen ihr ganz natürlich vor. Auch als er sich hier und da Geld für den Friseur oder neue Schuhe bei ihr lieh, zögerte sie nicht, es ihm zu schenken - sie bekam doch so viel mehr zurück für diese Kleinigkeiten.
Nach ein paar Wochen aufregender Gespräche, tollem Sex, gemeinsamen Essen, Theater- und Kinobesuchen bemerkte sie eine gewisse Zurückhaltung bei ihm. Er wollte zu Hause bleiben, verbrachte viel Zeit bei ihr, weil seine Heizung `kaputt` sei. Als sie ihn darauf ansprach, beichtete er ihr, dass seine Stütze wegen ein paar nicht gemeldeter Nebenjobs gekürzt worden wäre und er nicht wüsste, wie er die Miete aufbringen konnte. Also zog er bei ihr ein.
Paul brachte nicht mehr als zwei Koffer mit Kram und Klamotten und sein Klavier mit. Das passte bei ihr schon noch in die Zweizimmerwohnung, wenn sie zusammenrückten, sie brauchte zum Beispiel diese große Bodenvase nicht. Dafür konnte er ihr jetzt etwas vorspielen. Sie liebte es, wie er mit schräg gelegtem Kopf übte und romantische Stücke spielte und hielt ihn immer mehr für ein verkanntes Genie.
Es lief gut, in Jeanettes Augen. Sie war glücklich, jemanden zu haben, für den sie sorgen konnte. Sie kaufte ein, kochte, und ließ ihn schlafen, wenn sie sich morgens für die Arbeit fertig gemacht hatte. Sie frühstückten nur noch am Wochenende zusammen. Wenn sie dem schlafenden Paul einen Kuss auf die Stirn drückte, bevor sie zur Straßenbahn rannte, sah sie ihn sich oft noch minutenlang an. Sie roch seinen warmen Bettgeruch nach Sex und Schweiß so gerne.
Seufzend, aber lächelnd hob sie seine Socken vom Vortag auf und freute sich schon darauf, sich abends mit ihm auf die Couch zu kuscheln und seine bewundernden Augen auf sich zu spüren – er konnte sie so liebevoll und tief ansehen, dass sich in ihrem Körper Wärme wie verinnerlichte Sonnenstrahlen ausbreitete.
Immer öfter war er abends nicht zuhause, und erschien erst Stunden nach ihr, mürrisch von einem überraschenden Jobangebot erzählend. Oder er war nicht allein, wenn sie kam, und trank und redete laut und gutgelaunt mit ihr fremden Männern, alle Musiker oder Lebenskünstler, genau wusste sie das nie, die über Gott und die Welt klagten oder lachten.
Wenn sie dann schweigsam wurde und anfing, die geleerten Flaschen wegzuräumen, schickte er sie heraus und nannte sie vor seinen Freunden einen Spielverderber und Kulturbanausen, jemanden, der Ordnung im Sinn hatte, während weltbewegende Ideen geäußert würden. Sie wusste, es war der Alkohol, der ihn so unangenehm werden ließ und nahm es hin.
Sie klagte nicht darüber, dass er nichts im Haushalt tat und sie ihn oft noch nachmittags halbnackt lesend im Bett vorfand, wartend auf sie, damit sie ihm etwas zu essen machte. Sie verstand es, wenn er übel gelaunt von einem Vorspielen kam und tröstete ihn, wenn es mal wieder nicht geklappt hatte, eine Weile arbeiten zu können. Es war für sie ganz normal, dass ein Künstler wie er sich mit Profanem wie Wäsche, Einkaufen oder Putzen nicht abgeben wollte. Er musste sich ganz auf seine Kunst konzentrieren.
Ein erster Zweifel, ob sie wirklich seine einzige, wahre Muse war, ob er sie so liebte, wie er behauptete und ob sie wohl das Richtige tat, indem sie ihm nie widersprach, kamen ihr erst nach Monaten. Als er eines Abends, als sie zusammen auf einer Party seiner Freunde waren und er sehr viel trank, eindeutige Bemerkungen über einen flotten Dreier machte. Sie wollte nicht die brave, ordentliche, langweilige Frau sein, die ihm den Spaß verdarb, aber sie konnte es immer nur mit Stechen im Herzen mit ansehen, wenn er mit anderen flirtete. Und da ging er zu weit.
„Stell dich doch nicht so an, Jeannette, Liebling. Suzanne ist eine alte Freundin von mir. Nicht dass wir zusammen waren oder so was. So was Festes wie mit dir hab ich noch nie erlebt, wirklich, weißt du ja. Aber sie ist eine sehr leidenschaftliche Frau, und sehr großzügig. Warum sollten wir uns den Spaß nicht gönnen? Du hättest bestimmt auch was davon. Du bist doch nicht spießig, oder?“
Was sollte sie darauf antworten? Jeannette starrte auf Pauls Arm um die lachende, beschwipste Frau, die sie nicht mal besonders hübsch fand. Vielleicht war sie ja wirklich spießig. Das hatte sie sich schon oft selbst gefragt. Immer, wenn seine Freunde sich äußerst freizügig benahmen und keinem Vergnügen abgeneigt waren. Während Jeannette selbst sich alle Mühe gab, über die verschiedensten Äußerungen von fragwürdigen Sitten hinwegzusehen und locker zu bleiben, wie Paul es nannte.
Sie lachte mit, wenn einer von Pauls Freunden sich nach einem Alkoholexzess auf der Straße übergab. Sie tat nichts dagegen, wenn sie eine Band mit Tomaten bewarfen, die ihrer Ansicht nach Scheiße spielten. Sie trank mit und sah mit verhangenem Blick zu, wie Paul andere Frauen küsste, die ebenfalls Künstlerinnen waren und neben denen Jeannette sich langweilig und unscheinbar fühlte.
Sie lernte so viel sie konnte über Musik, Kunst, die Boheme, hörte, was Paul ihr empfahl, las, was er gut fand und hielt tunlichst den Mund, wenn sie etwas eigentlich ziemlich doof fand. Sie hätte sich ja als Spießbürgerin outen können.
Aber ein Dreier? Paul wirklich, körperlich teilen müssen und es noch mit ansehen, sogar mitmachen, und nicht zugeben dürfen, dass ihr am Sex eigentlich am meisten die Zärtlichkeiten als Ausdruck ihrer tiefempfundenen Liebe gefiel – für sie war es kein Spaß. Wirklich befriedigt war sie nach ihren Liebkosungen und leidenschaftlichen Erlebnissen nur, wenn sie sich danach in den Armen lagen und sie sicher war, dass sie durch so viel mehr verbunden waren als nur körperliche Liebe.
Sie hatte alles mitgemacht, was er sich wünschte, sündhafte Dessous getragen, Spielzeug benutzt, das sie nur mit Mühe ohne Lachen für ihn anwendete und Techniken erlernt um ihn zufriedenzustellen, die sie vorher nicht gekannt hatte, und nur in Filmen sah, die er sie nun bat, sich mit ihm anzusehen.
Doch der Dreier fand nicht statt, sie blieb hart, auch wenn er sie auslachte. Jeannette wusste, dass er mit Suzanne das Bett teilte, immer, wenn er erst spät nachts nach Hause kam. Er war verletzt und weinte, wenn sie ihn darauf ansprach, und verzweifelt hörte sie ihm zu, wenn er ihr versicherte, er würde viel lieber alles mit ihr teilen, aber sie sei leider nicht so weit – sie sei noch nicht so offen und verständnisvoll, wie er es sich wünschte.
Sie konnte ihm nicht mehr glauben. Sie konnte ihn nicht mehr verstehen. Sie wusste nicht mal, ob sie ihn noch lieben konnte. Auf einmal missfiel es ihr, dass sie nur seine Putzfrau war und begann, sich ausgenutzt zu spielen.
In der Zeit, die er bei ihr wohnte, in der sie sich ihm widmete und alles für ihn tat, konzentrierte er sich neben all dem Spaß, den er ihr zugänglich machen wollte, auch auf seine Musik. Er komponierte und übte und schuf Wunderschönes. Als er eines Tages jubelnd nach Hause kam und Jeannette in den Arm nahm, sie durchs Zimmer wirbelte und ihr erzählte, das Landesorchester würde ein Stück von ihm aufführen, freute sie sich mit ihm.
Doch nach dem feierlichen Abendessen eröffnete sie ihm, dass dies der letzte gemeinsame Abend sei. Er könnte sich jetzt mit seinem Erfolg sicher eine eigene Wohnung leisten. Seine Koffer hatte sie bereits gepackt. Er diskutierte, schrie, argumentierte, versprach Änderung, aber sie sagte kein Wort mehr außer:
„Dann bin ich eben spießig. In deinen Augen. Meine Definition ist da doch inzwischen ein bisschen anders.“
Er tobte, aber als sie sich nicht dazu bewegen ließ, ihre Meinung zu ändern, ging er.
Sie sah ihn erst wieder, als sein Stück Uraufführung hatte. Sie lächelte ihm von ihrem Platz aus zu, als er auf die Bühne kam, um sich dem begeisterten Applaus zu stellen. Er warf ihr eine Kusshand zu.
Jeannette war wieder allein. Ihr Leben war wieder ruhig, wie vorher, und es gefiel ihr. Durch ihre Erfahrungen mit Paul hatte sie eine andere Welt kennengelernt und das machte sie oft lächeln, wenn sie ihre Kolleginnen mal negativ, mal positiv, aber meist verständnislos über Kunst, Musik, und die Leute reden hörte, die ihr Leben den schönen Dingen widmeten. Sie wusste mehr. Von allen Aspekten des Ganzen.
Sie fragte sich manchmal, ob Paul wohl ohne sie der gleiche Erfolg beschieden gewesen wäre? Sie hatte das Gefühl, ihren Teil dazu getan und der Kultur damit einen Dienst geleistet zu haben. Doch sie war auch ganz sicher, dass sie keine Künstlerin war.
Ich glaube, sie ist eine.