Karo
Ich wollte diese Party nicht. Ich hatte seit langem keine Party mehr gewollt; schon das Wort ist wie ein kalter Tropfen in meinen ungeschützten Nacken. So sehr ich sie einmal liebte, so verabscheue ich heute die Vorstellung, mit Leuten reden zu müssen, die mich anlächeln, während sie etwas ganz anderes denken. Damals, auf den Partys meiner Jugend, war das Lächeln echt, aber das lag nur daran, daß wir alle noch nicht wussten, wo wir mal landen werden. Und die wenigen, die es damals schon ganz genau wussten, haben auch damals schon ganz genau so falsch gelächelt. Einer dieser Falschlächler ist der Gastgeber, und daß er der beste Grund für meine bescheidene Begeisterungsfähigkeit für solche Partys ist, wird sogar er selbst bemerkt haben. Gerade haben wir den obligatorischen Begrüßungsplausch beendet, und der war etwas kühler gewesen als der Eiswürfel in meinem Whiskey. Das einzige, das wir beide gemeinsam haben, ist wohl die antwortlose Frage, warum er mich überhaupt eingeladen hat.Ich schlurfe über den Terracottaboden einer riesigen Terrasse und ärgere mich erneut über diesen Eiswürfel in meinem Drink. Hatte ich nicht deutlich gesagt, >Kein Eis, bitte<? Doch, hab ich. Es muss bei einigen Leuten eine Störung im Hörvermögen geben, die ihnen das Wahrnehmen dieses plosiven Glottal-Lautes unmöglich macht. Welche Folgen wird dieses Handicap wohl haben? Immer, wenn von „kein“ oder „keine“ die Rede ist, wird ja „ein“ oder „eine“ verstanden. Das müsste den Behinderten eigentlich selbst auffallen. Während ich diesen sinnlosen Gedanken nachhänge und den Eiswürfel in einem riesigen Terracottatopf mit Monsterpalme verschwinden lasse, haut mir jemand auf die Schulter. Es ist der Hühne aus der Parallelklasse der Oberstufe.
„Na, alter Haudegen? Dich hätt ich hier ja gar nicht erwartet.“ Er ist immer noch viel zu laut.
„Ach, du bist’s. Hallo.“ Verdammt, wie heißt diese Pappnase nochmal? Die blasse Frau, die er im Arm hält wie in einem Schwitzkasten, hab ich noch nie gesehen. Ich gebe ihr höflich die Hand und stelle mich vor. „Ich bin Mark“ sage ich und halte eine kalte, kraftlose Hand.
„Das ist Mirjam, meine Freundin“ dröhnt er und fängt gleich mit seiner Vita an. Sanitärladen von Vater übernommen; läuft ganz gut soweit, aber seine Töchter wollen was anderes machen. Seine Frau hat er zum Teufel geschickt. Er wird Mirjam heiraten, nächstes Jahr, in Sankt Moritz. Da hat er ein Häuschen. Auch von Vater. Er fragt mich nicht nach meinen Neuigkeiten, und ich kann mein Glück kaum fassen, als er sich wieder trollt; seine blasse Freundin fest im Griff.
Ich hole mir ein neues Glas. Diesmal bei einer adretten Servicekraft, der ich völlig vertrauen kann. Sie reicht mir den Drink und fragt mich, ob ich der mit dem Tonstudio in der Bernauer sei. Ich bejahe mit meinem Machen-Sie’s-kurz-Gesicht, worauf sie erfreulicherweise sehr angemessen reagiert. Sie habe schon einiges von mir gehört und würde gern einen Termin vereinbaren. Sie reicht mir eine Karte und schenkt mir ein nettes Lächeln. Ich gebe ein freundliches Grinsen zurück und wende mich wieder dem Terrassengeschehen zu. Der Name auf der Karte weist die Dame als Sprößling des Gastgebers aus. Das kann zwar auch eine zufällige Übereinstimmung sein, aber bei diesem vertrackten polnischen Familiennamen müsste es mit dem Teufel zugehen. Nagut, schaun wir mal, was das wird. Ich stecke die Karte ein und nehme einen Schluck. Viele sind es nicht, die ich hier kenne. Ich lasse den Blick ein wenig über die Grüppchen schweifen und überlege, nach diesem Glas wieder zu gehen. Da fällt mir dieses eine Gesicht in der Menge auf. Sofort springen mich diese Bilder an, die ich so lange nicht mehr vor Augen hatte.
Karo. Mein Gott, was macht die denn hier! Die wird doch nicht für diese Party aus Chile hergeflogen sein. Und wie die aussieht! Hat sie die letzten drei Jahrzehnte nichts zu essen bekommen? Die war doch so üppig als junge Frau. Mann, war ich in diese Karo verknallt! Ich hätte alles für sie getan, nur um mit ihr zusammenzusein. Dabei dachten immer alle, wir wären zusammen. Was für eine Tragödie! Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, so geile Sachen gemacht, und nichts ist draus geworden. Ich war verzweifelt und glücklich zugleich. Ich war ihr bester Freund, aber nicht ihr Lover. Das Schicksal hatte sie zur Lesbe gemacht, und das war lange unser Geheimnis. Wie habe ich das nur so lange ausgehalten? Naja, so schlimm war es ja auch nicht. Eigentlich. Es war ja nur der Sex, aus dem nichts geworden ist. Aber alles andere war schon ziemlich cool zum Teil. Und daß sie jetzt hier auftaucht, ist ja wohl das coolste überhaupt. Sie steht mit Ronald an der Brüstung und scheint sich sehr gut zu unterhalten. Egal, da muss ich jetzt leider dazwischenfunken.
Ronald war damals unsagbar eifersüchtig gewesen, weil ich Karo für mich hatte gewinnen können, und genau diese missgünstige Eifersucht blitzt spontan in seinem Blick auf, als er mich auf die beiden zukommen sieht. Ich frage mich kurz, wie das überhaupt sein kann; dreißig Jahre danach, aber Karo hatte seinen Blick auch bemerkt und in meine Richtung gesehen. Ihr freudiger Aufschrei ließ mein Herz so springen wie er dasjenige von Ronald augenscheinlich zerriss. Sie lief mir entgegen und sprang mir förmlich in die Arme. Das hätte sie sich damals nicht erlauben können. So aber kann ich sie auffangen und herumwirbeln wie ein kleines Kind. Sie riecht immer noch genauso, wie damals. Der Duft lässt mir die Bilder in einer Schärfe und Intensität entstehen, die mich fast benebelt. Ich sehe uns mit den Instrumenten experimentieren, die teure Videokamera auf On, sooft es ging, das Tonband lief eh immer mit; die tollen Stunden am See, in der Nacht, wenn wir Texte machten, uns Melodien vorsangen oder Musikvideos phantasierten. Und jetzt habe ich sie hier in meinem Arm, als hätte es die Zeit dazwischen gar nicht gegeben. In diesem Moment wünsche ich mir, daß sie mir gleich von ihrer endgültigen Rückkehr erzählen wird.