Das Loch
© Nisham 10/2011Blendend weiß erscheint die Festung in der späten Nachmittagssonne. An der Mole aus Steinquadern liegen zwei Dreimaster vor Anker. Es ist heiß, obschon eine leichte Brise weht. Es ist still, nur das leichte Plätschern der Wellen ist zu hören.
In der Festung, oben auf der Mauer, im Schatten warten die Wachen auf ihre Ablösung. Im Hof der Festung hört man nur ab und an das Rasseln von Ketten. Eine niedrige runde Mauer steht mitten im Hof der Festung. Viel zu groß für einen Brunnen. Und so nah am Meer, wäre da sicher kein Trinkwasser zu holen. Ich schlendere über den Hof, nachdem ich mit dem Gouverneur getafelt habe. Zum ersten Mal gehe ich diesen Weg. Ein paar Schritte bringen mich zu dieser Mauer. Ich habe schon davon gehört. Doch nun will ich es mit eigenen Augen sehen. Ein grässlicher Gestank weht mir entgegen, als ich mich über das Mauerwerk beuge. Ich zucke heftig zurück. Ich halte mir ein Tuch vor Mund und Nase und beuge mich noch mal vor. Das Loch ist bis unten gemauert, die Steine glatt verputzt und sich nach oben verjüngend. Eine sehr saubere Arbeit. Das Loch ist etwa 12 Schritte im Durchmesser und fast so tief. Darin stehen und kauern Menschen. Dunkelhäutige. Fast nackt, nur mit wenigen Fetzen bedeckt. Alle tagen sie Ketten. Schwere rostige Eisenketten. Diejenigen, die kauern, denen kommt das Wasser bis zur Brust, also muss es mehr als einen Fuß tief sein. Es ist eine farblich nicht zu erkennende dunkle, stinkende Brühe.
Ich versuche die Menschen zu zählen. Einige schauen mit glasigen Augen nach oben. Ein Mann reckt mir seine beiden mit Ketten verbunden Hände entgegen und schreit mir etwas in einer mir unverständlichen Sprache zu. Ich zähle mehr als drei Dutzend Menschen. Alle sind sie jung. Die meisten Männer, doch auch einige Frauen. Der Gestank ist unerträglich. Mir wird fast über. Doch ich kann mich nicht davon lösen. Und dann erkenne ich es genauer: jetzt haben wir Ebbe. Bei Flut steigt das Wasser in dem Loch. Wie hoch? Derzeit, wo die Flut recht mäßig zu sein scheint, wohl nur um drei oder vier Fuß. Doch dann kann niemand mehr kauern, alle müssen sie stehen. Und das stundenlang. Zweimal am Tag.
Eine leichte Hand legt sich auf meine Schulter. Ich dreh mich erschrocken zurück. Es ist mein hiesiger Begleiter. Er zieht mich von diesem Loch weg. Ich brauche frische Luft. Am Strand kann ich atmen. Und mein Begleiter erklärt mir, dass dies alles renitente Sklaven sind. Die werden so bestraft. Auf meine Frage, wie lange denn diese Bestrafung dauert, meint er, das sei je nach Laune des Gouverneurs. Manche würden nur wenige Wochen bleiben, andere länger... Wenn sie überlebten. Und das hätten noch nicht viele geschafft. Ja, sie würden auch Essen und Wasser kriegen, einmal am Tag. Und das sei ein tolles Schauspiel. Heute sei es leider schon vorbei, doch ich sollte mir das morgen kurz nach Sonnenaufgang nicht entgehen lassen.
Die Welt ist grausam. Und die Menschen sind noch grausamer. Dieses Spektakel hab ich mir nicht angeschaut. Denn, wenn ich davon nach meiner Rückkehr berichten würde – niemand würde mir Glauben schenken.