Die Sonne hat einen neuen Stand
Die Sonne hat einen neuen StandDie Sonne hat einen neuen Stand
ich heut' noch kein Lächeln fand
fühl' mich so halb und garnicht ganz
ein Baum, nackt ohne Glanz
Am frühen Tag der Nebel mich umfässt
und kühl betaut und schwer
lautlos, ohne Gegenwehr
das Laub dem Boden überlässt
Jedes Blatt ich ungern gebe
die Sonne scheint, dass es noch lebe
im wunderschönen Farbenglanz
das Rauschen ich vermiss' den Tanz
Ob der tiefen Wurzelgefilde
die Krone müd' im Winde wiegt
es knirscht im Astgebilde
ein einzig Apfel unten liegt
Wenn im Winter ich erstarre
und weiss bedeckt verharre
die Nester kalt behüte
auf, dass' im Frühling neu bebrühte
Ich den vollen Mond anbete?
Greif in die Sterne mit kahlem Geäst
äder den Himmel unter den Wolken
wenn warmer Wind dann bläst
und Knospen kommen wollen
Hach, hätt die Sonne einen ander'n Stand!
Die kleinen Schwirrer kommen
Blüten schon erwarten an jedem Ende
jeden neuen Ast erklommen
nach der Wiederjahreswende
so harzbeklebt
so neu belebt
und ausgeruht
folgt neue Brut
Hat die Sonne einen neuen Stand
Auf jedem Ast ein Vogel sitze
sie trällern ohn Unterlass
in dieser fetten Sommerhitze
voll ist jedes Fass
Hätt die Sonne doch einen andern Stand!
Heut im Schatten hatte ich Besuch
ein herzgebrochnes Menschenkinde
er schnitt in meine Rinde
seinen innigstes Gesuch
dass er ewig binde
als wäre ich ein Buch
mit Lettern in mein Fleisch
daraus floss mein Blut
Die Sonne heut war rot vor Wut!
Im Herbst ich wieder Äpfel gebe
so schön rund und sauer
ich zeigs euch und ich lebe
freut sich nicht nur der Bauer
Die Sonne legt sich auf die Lauer!
carmen 10/11