Der Dolch
Der Dolch© Nisham 10/2011
Fortsetzung von „Die Grube“
Kurzgeschichten: Die Grube
Nach Tagen auf staubigen Wegen und Pfaden sehen wir endlich das Meer. Wir sind beide müde, doch wir schauen nicht zurück. Nun sitzen wir hoch über dem Strand, im Schutz einiger Felsen und schauen aufs Meer. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich das Meer.
Das Meer. Es ist blau-grau. Bleiern. Mit weißen Kronen auf den Wellen. Uns fehlen die Worte. Mag hat sich in meine Arme gekuschelt. Wir schweigen. Und schauen den Möwen zu. Wir essen von dem Brot, das wir noch haben und teilen uns den Rest des Käses.
Später, ohne dass ich je etwas gesagt oder gefragt hätte, beginnt Mag zu reden. Sie erzählt mir ihre Geschichte. Oder zumindest das, was sie für wichtig hält.
Sie lebte in einem kleinen Ort, nicht weit vom Meer. Ihr Vater, ein Säufer. Und wohl auch ein Dieb. Ein Straßenräuber. Ihre Brüder – alle älter als sie - nicht besser. Ihre Mutter? Schon lange tot. Mag musste in der armseligen Hütte alles machen. Es war halt niemand anders da, der hätte kochen können und ab und zu die wenigen Kleider waschen. Ihr Vater hatte ihr nur ein einziges Geschenk gemacht. Er hatte ihr eine kleine Axt mitgebracht. Ganz aus Eisen. Wer weiß, woher er dieses Ding hatte. Er meinte, dies sei viel zu klein für einen Mann, doch für ein Mädchen gut genug, um Feuerholz zu hacken. Mag fand es viel leichter, mit dieser kleinen Axt Holz zu hacken; insbesondere, nachdem sie gelernt hatte, die Klinge immer wieder zu schärfen. Anfänglich hatte sie damit nur Holz klein gehackt. Doch irgendwann warf sie die Axt in einem Wutanfall gegen einen Baum. Die Axt blieb mitten im Stamm stecken. Mag war überrascht. Stutze. Riss die Axt aus dem Stamm und warf sie erneut in Richtung eines Baumes. Verfehlte ihn. Am nächsten Tag, im Wald, als sie Holz sammelte versuchte sie es wieder. Und wieder. Manchmal traf sie sogar den Stamm den sie treffen wollte. Nun übte sie bei jeder Gelegenheit. Ihrem Vater und ihren Brüdern sagte sie nie etwas davon.
Sie übte oft, und wenn Vater und Brüder tagelang abwesend waren, dann übte sie noch mehr. Stundenlang. Sie wurde immer besser. Traf den Baumstamm immer öfter genau an dem Punkt, den sie sich ausgesucht hatte. Und sie tat das aus immer größeren Entfernungen. Waren es am Anfang nur wenige Schritte, so traf sie mittlerweile auf fast zwanzig Schritten.
Die Zeit Verging. Mag wurde größer. Zu Hause wurde es immer unerträglicher, wenn die Männer da waren. Wenn sie nicht betrunken nach hause torkelten, musste sie ihnen Unmengen Essen zubereiten. Gut, ihr Vater steckte ihr immer genügend Münzen zu, damit sie auch Eier und Speck und Schinken kaufen konnte. Von diesen Münzen schaffte es Mag immer wieder die eine oder andere zu behalten. Sie nähte jede Münze sorgfaltig in ihren Rock. Das einzige Kleidungsstück, das sie besaß.
Mit ihrer kleinen Axt lernte sie auch auf bewegliche Ziele zu werfen. Die Hasen im Morgengrauen, wenn sie nur herumhoppelten und nicht grad im wilden Zickzack davon stoben. Immer wieder gab es Kaninchen im großen Topf geschmort. Die Männer aßen auch dieses Fleisch. Sie fragen nie nach dem Woher.
Und an jenem Tag ging sie in den kleinen Ort um Salz zu kaufen. Sie hörte den Tumult und ging vorsichtig in die Richtung des Lärms. Vor einer schäbigen Schenke war eine wüste Schlägerei im Gange. Sie erkannte ihren Vater und ihre Brüder und etliche andere Raufbolde und Taugenichtse. Plötzlich stoben sie alle auseinander. Nur ihr Vater blieb. Er lag am Boden. Eine Blutlache bildete sich unter ihm. Mag ging näher. Drei Schritte vor ihrem schon fast toten Vater blieb sie stehen. Es kamen ihr Tränen. Doch dann kamen ihre Brüder und schleiften ihren Vater weg. Zu ihr sprachen sie kein Wort. Sie raffte ihre Röcke und ging. Nein, nicht in die Richtung ihrer Hütte.
Mag hatte kein Ziel. Nur eins war klar: weg von hier. Weg von ihren Brüdern. Weg von all dem. Sie war jung. Besaß nur die Kleider die sie trug. Und die Münzen, die sie zusammengespart hatte. Sowie die kleine Axt, die sie an einem Lederriemen, griffbereit an ihrem Rock festgebunden hatte.
Sie schlief draußen oder stahl sich ab und zu in eine leere Hütte. Ernährte sich von dem, was sie finden konnte. Kaufte sich ab und zu trockenes Brot. Sie mied die wenig begangenen Wege; versuchte immer sich unauffällig Gruppen Reisender anzuschließen. Zum Glück waren immer Händler, Gaukler und Pilger unterwegs. Und sie hatte Glück gehabt.
Sie ging in Richtung Süden, denn es gab keine andere vernünftige Richtung. Sie wusch sich in Bächen und versuchte immer ordentlich und sauber auszuschauen. Nachts hielt sie sich von Menschen fern. Als sie an einem sonnigen Nachmittag, abseits des Karrenweges sich an einem Bach die Füße wusch, tauchte vor ihr ein großer bärtiger Mann auf, der schallend lachte und sie anglotzte. Schnell stand Mag auf, drehte sich um und flüchtete. Doch der Bärtige kam fluchend hinter ihr her. Er holte rasch auf. Doch Mag war flink und ging wie ein flüchtender Hase, Haken schlagend. Der Bärtige fluchte noch mehr. Doch dann stolperte er über eine Wurzel. Mag drehte sich um. Sah den Mann etliche Schritte hinter sich, wie er sich gerade aufrappelte. Er hielt nun einen mörderisch glänzenden Dolch in der Hand. Sie dachte nicht, als ihre Hand zur Axt griff, ihr Arm ausholte und die Axt sirrend durch die Luft flog. Den Schädel des Bärtigen traf sie mitten drin. Spaltete den Kopf entzwei. Mag war entsetzt. Sie schrie laut auf. Das hatte sie doch nicht gewollt. Aber… Der Mann lag nun tot, auf der Seite. Er starrte mit leerem Blick in ihre Richtung. Mag ergriff ihre Axt. Doch sie nahm dem Toten auch einen Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing und den Dolch, der ihm aus der Hand entglitten war. Dann eilte sie davon.
Tage später fand ich Mag in meiner Hütte. Sie hatte Feuer gemacht und in meinem Topf dampfte es und roch so gut. Auch hatte sie den gröbsten Dreck aus meiner Hütte gefegt.
Nun sitzen wir hier am Meer. Hören dem Rauschen der Brandung zu. Ich habe ihre Erzählung mit keinem Wort unterbrochen. Ihre Axt hatte ich schon gesehen, ich weiß auch, dass sie damit umgehen kann. Unser Kochtopf hat das zu schätzen gewusst.
Sie reicht mir den Dolch, den sie in ihrem Bündel versteckt hat. Sie hat ihn mir vorher noch nie gezeigt. Es ist eine sehr schön geschmiedete Waffe. Scharf. Doch der Griff ist mit einem schmierigen Leder umwickelt. Ich nestle an dem Leder und löse es. Mein Atem stockt. Mag hat riesengroße Äugen und zieht scharf den Atem ein. Der Griff des Dolches funkelt. Ist mit Edelsteinen besetzt. Sicher die Beute eines Wegelagerers. Und der Verlust eines Edelmannes.
Mag schaut mich an. Vielleicht hat sie es noch nicht begriffen. „Mag, mit einem einzigen dieser Edelsteine können wir uns alles kaufen, was wir brauchen um irgendwo neu anzufangen. Und mit einem zweiten können wir auf einem Schiff irgendwohin fahren.“ Mag schaut mich an. Immer noch sprachlos. Dann sagt sie nur: „Ich habe das Leder nie weggemacht. Ich wusste nicht…“
Zwischen den Wolken am Horizont senkt sich die Sonne. Bald wird es Nacht werden. Und morgen ist ein neuer Tag. Der erste wirkliche Tag der Zukunft von Mag und mir.