Sekundenkind
Bereits während, oder doch besser gesagt, noch vor seiner Befruchtung, wusste es, dass es sein wird. In sich spürte es das Teilen der Zellen, das Wachsen der Hülle und das Einnisten im aufnahmebereiten Uterus. Die folgenden Monate verliefen relativ ereignislos, da es sehr mit Wachsen beschäftigt war und es fasziniert beobachtete, wie seine Gliedmaßen wuchsen und sich streckten, seine Organe sich ausbildeten, das Herz mit seinem unermüdlichen Schlagen begann.Der Blick ins Zeitfenster gewährte ihm das nächste Ereignis, das seiner eigenen Geburt. Es fühlte bereits die warme Haut seiner Mutter, die den kleinen Körper an sich schmiegte und liebevolle Worte in das jungfräuliche Ort flüsterte. Es wusste, die gnadenlosen Schmerzen, die seine Mutter erleiden musste, würden schnell vergehen, dann wären sie vergessen. So freute es sich auf seinem beengten Weg hinaus in die Welt, auf die Obhut und Liebe seiner Mutter, die es endlich von außen wahrnehmen durfte.
Fest entschlossen war es, seinen Eltern ein gutes Kind zu sein, ihnen alle Liebe zurückzugeben, die sie ihm in der nächsten Zeit schenken würden. Es war glücklich, diesen Eltern geboren zu werden.
Sanft wurde es umfangen, spürte und erlebte all die wundervollen Dinge, die es bereits kannte. Doch waren sie unendlich schöner, als in seinen Sekundenblicken. Manchmal überfiel es eine Traurigkeit, wenn es daran dachte, dass der eine Moment, vor dem es sich ein wenig fürchtete, näher rückte.
Doch schob es diesen Gedanken beiseite, um seine Eltern glücklich zu machen, die ihm alles gaben, was ihnen zu eigen war.
Wenige Augenblicke vor dem Moment, in dem seine Mutter es zu sich holte, um es zu stillen, schlug es lächelnd die Augen auf und betrachtete seine müde Mutter voller Liebe. Es wusste, sie würde es, wenn es selig vor Müdigkeit wieder schlummerte, zurück in die Wiege legen und zärtlich zudecken.
Nach ein paar Monaten entschloss es sich, seine ersten Schritte zu wagen. Es wusste bereits seit langem, wie es sich anfühlte, wie es sich bewegen musste. Das Strahlen in den Augen seiner Eltern überschüttete es mit wohliger Wärme und Liebe. Als es sicherer auf seinen Füßchen war, es stets wusste wohin seine Mutter es an der Hand führen wollte, geschah es oft, dass es seine Mutter sanft in diese Richtung zog, diese dann verblüfft lächelte, ihm über das flaumweiche Haar strich und es einen kleinen Professor nannte. Es fühlte sich unendlich geborgen und schämte sich, diese Gefühle für sich in Anspruch genommen zu haben. Es wollte seinen Eltern nicht wehtun, doch würde es unweigerlich passieren. So entschied es für sich, jeden Moment mit seinen Eltern zu genießen.
Bis zu jenem Morgen, an dem es erwachte und eine einzelne Träne, von denen es bisher nur sehr wenige vergossen hatte, über seine Wange kullerte.
Es wusste, es war zwecklos, dennoch versuchte es, die Zeit zu vertrödeln, seine Eltern aufzuhalten, noch eine kurze Zeit länger mit ihnen verbringen zu können. Leise schalt es seine Mutter, am ersten Geburtstag müsse man doch brav sein und sich nicht zu sehr sträuben, hübsch angezogen zu sein. Sie wollen doch pünktlich bei Oma ankommen, um den Geburtstag feiern zu können.
Das kleine Herzchen pochte, als sie sich dem Bahnübergang näherten. In seiner Verzweiflung begann es zu weinen, hoffte damit etwas ändern zu können. Doch wusste es, das zärtliche Streicheln des Fingers seiner Mutter, wäre die letzte wohlige Berührung in seinem jungen Leben, die es erfahren würde. Kurz darauf spürte es einen dumpfen Schlag in seine Seite. Seine Mutter starrte erschrocken auf das entsetzte Babygesicht, dann trat es ein in das Dunkel. Es wusste, in wenigen Momenten würden es die anderen Sekundenkinder empfangen und mit sich nehmen.
Die Kinder, die am richtigen Ort zur falschen Zeit waren.