Der Geruch nach Tee
Der Geruch nach TeeLangsam schlenderte sie die Straße hinunter. Links die belebte Straße, voll mit Feierabendverkehr, rechts die kleinen Läden, Cafés und Bars; einige noch mit Weihnachtsdeko geschmückt und um diese Zeit sich langsam mit fröhlich plaudernden Menschen füllend.
Sie ließ sich durch die frühe Dunkelheit dieses Dezemberabends treiben und wich eher unbewusst den an ihr vorbei eilenden Passanten aus, denn ihre Gedanken waren davon gewandert.
Seit drei Jahren lebte sie jetzt in Berlin, aber noch immer war es ihr nicht gelungen, mehr als nur Barbekanntschaften, die nur für einen Abend hielten, zu schließen. Nie hatte sie einen Mann mit in ihre Wohnung genommen und sie scheute sich davor, in einem Club in anreizender Kleidung sich an die Bar zu setzten und die Männer mit einem kurzen Rock und tiefem Ausschnitt praktisch einzuladen. Sie hoffte immer noch, dass ihr Mr. Right durch Zufall über den Weg laufen würde und sie war fest entschlossen, dann zuzugreifen. Bei der Erinnerung an ihre letzte nicht allein verbrachte Nacht seufzte sie leise und beschleunigte ihre Schritte.
Die Hände tief in die Taschen ihres kurzen Wollmantels vergraben, das Gesicht fast zur Hälfte von dem riesigen handgestrickten Schal verdeckt, trotzte sie der Kälte. Als sie einer Gruppe laut diskutierender Jugendlicher auswich, sah sie sich zufällig im Spiegelbild einer Scheibe.
Sie zog den Schal unter das Kinn, um sich ihr Gesicht anzuschauen und strich sich dabei mit gespreizten Fingern gedankenverloren durch die Haare bis sie so lagen, wie sie es wollte.
Dann betrachtete sie den Rest ihres Gesichtes. Sie hatte sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass es nur wenige gab, die sie auf Anhieb als hübsch bezeichnet hätten.
Ihre Augenbrauen waren eine Spur zu energisch; zu gerade und vielleicht auch eine Spur zu dicht. Doch sie hasste es, sie im Bogen zu zupfen oder zupfen zu lassen. Sie hatte es einmal probiert und gemerkt, dass sie es unecht aussehen ließ. Nicht mehr wie sie.
Ihre Augen standen eindeutig zu weit auseinander.
Das sie aber wundervolle lange und dichte Wimpern hatte, fiel da kaum auf, so genau schaute schon keiner mehr hin. Nur ihre Nase, die gefiel ihr gut. Nicht zu groß und nicht zu klein.
Und ihr Mund? Im Moment war er zu einer strengen Linie zusammengepresst. Aber auch sonst sah er eher streng aus. Ein Mund, der selten lächelte. Was nicht daran lag, das sie unfreundlich wäre. Es lag daran, dass sie niemanden kannte, mit dem sie freundlich hätte sprechen können. Im Büro wurde sie zwar respektvoll behandelt, aber man sprach immer mit einer gewissen Befangenheit in ihrer Gegenwart. Kaum Gelegenheit also, freundlich zu sein. Bisher hatte sie auch noch niemand gefragt, ob sie nicht nach Büroschluss noch in eine Bar mitkommen wollte.
So ging sie allabendlich allein aus dem Gebäude. Die Hände tief in die Taschen ihres Mantels vergraben.
Plötzlich wurde sie aus ihrer Versunkenheit gerissen. Etwas stimmte mit ihrem Spiegelbild nicht mehr. Ihre Augen waren dunkler geworden. Und größer. Eindeutig. Und der Mund...sie stieß erschrocken einen Schrei aus, als sie erkannte, dass ein Gesicht von der anderen Seite der Scheibe sie anschaute und sie anlächelte und sie stolperte einen Schritt zurück. Genau in einen älteren Herren hinein, der sie aber mit seiner um ein vielfaches größeren Leibesfülle einfach beiseite und von den Füßen schob. Mit den Armen ins Leere greifend, fiel sie fast der Länge nach hin. Sie schaffte es zwar, sich mit den Händen abzufangen, aber es war schmerzhaft genug und sie beeilte sich wieder auf die Füße zu kommen.
Dann betrachtete sie ihre Hände. Die begannen immer heftiger wehzutun, denn die kleinen kantigen Steinchen des Streudienstes hatten sich schmerzhaft in ihre Handflächen gebohrt. Vorsichtig bewegte sie die Innenflächen gegeneinander, um die Steinchen abzustreifen. Außerdem fing ihr linkes Handgelenk an, schmerzhaft zu pochen. Vorsichtig befühlte sie es, doch konnte sie nichts feststellen und ratlos rieb sie sich das Handgelenk.
Die Hände leicht von sich weggehalten, schaute sie sich suchend um...und zuckte zusammen, als eine helle Stimme neben ihr sagte: „Komm rein. Du kannst deine Hände bei mir waschen.“ Sie drehte sich der Stimme entgegen. Und erkannte die dunklen Augen wieder.
Sie nahm sich die zwei Sekunden um das Mädchen in der Tür neben ihr genauer zu betrachten. Die Arme vor der Brust verschränkt, hielt sie eine dunkle Strickjacke zusammen. Sie trug Filzlatschen und hatte buntgestreifte Strumpfhosen oder lange Strümpfe unter einem knielangen schwarzen Rock an. Und sie hatte die kürzesten Haare, die sie seit langem bei einer Frau gesehen hatte. Zudem waren sie dunkel, fast schwarz, mit einigen dunkelroten Strähnen darin und sie standen kunstvoll vom Kopf ab.
Das bemerkenswerteste aber war das Gesicht: große, dunkle Augen...und der Mund...und -
„Jetzt komm schon rein. Es ist kalt hier.“ Das Mädchen drehte sich um und ging ihr voraus in den kleinen Laden. Drinnen empfing sie Wärme und ein Schwarm unterschiedlichster Gerüche. Sie sah eine kleine Theke mit einer Kasse und einer Waage darauf. Die Wände waren voll mit Regalen, bis hoch mit akkurat beschrifteten Gläsern vollgestellt. Sie wollte ihren Schal aufmachen, doch das Mädchen kam ihr zuvor. Sie nahm ihr den Schal und auch den Mantel vorsichtig ab. Darunter kam ihr Bürokostüm zum Vorschein.
„Sie verkaufen Tee?“ Das war sowohl eine Frage als auch eine Feststellung. Und die Frau bereute ihren Ausruf gleich wieder, denn der Blick, den ihr das Mädchen daraufhin über die Schulter zuwarf, war eindeutig amüsiert.
Das Mädchen machte einen Schritt zur Seite und zog einen bunten Vorhang auf: zum Vorschein kam ein kleines Bad. Ein viereckiges Emaillewaschbecken an der Wand, darüber ein fauchender Warmwasserboiler. „ Nimm lieber das kalte Wasser. Das Warme ist wieder zu heiß. Das blöde Ding ist kaputt und lässt sich nicht mehr verstellen.“ Sie machte eine kurze Pause um der Frau beim Händewaschen zuzuschauen, dann fuhr sie mit einem Lächeln fort: „Ich bin Lilly, mit Ypsilon. Stolze Besitzerin des kleinsten Teegeschäfts in diesem Viertel.“ nach einer weiteren kurzen Pause fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, „Naja fast. Eigentlich gehört es meinem Vater, aber da er in einem anderen Geschäft lieber Gewürze verkauft, hat er mir Dieses hier überlassen.“
Die Frau sah Lilly an und sagte dann leise: „ Ich heiße Alexandra.“ Sie räusperte sich und sprach dann lauter weiter: „ und ich arbeite in einem Büro in dem Hochhaus um die Ecke.“
Als sie zum Handtuch greifen wollte, kam Lilly ihr abermals zuvor. Sie nahm die verletzte Hand und drehte die Handfläche vorsichtig nach oben. Dann begann Lilly, die Innenfläche trocken zu tupfen. Doch offenbar nicht vorsichtig genug, denn Alexandra zuckte kurz mit der Hand, als Lilly an eine blutende Stelle kam. Lillys Stimme war leise und sanft: „Halt still. Ich bin gleich fertig. Die andere Hand sieht ja zum Glück nicht so schlimm aus.“
Lilly ließ die blutende Hand nicht los. Sie zog Alexandra hinter sich her in ein anderes kleines Kämmerchen. Dort musste Alexandra sich auf einen Stuhl setzen während Lilly aus einem Schrank einen Verbandkasten kramte. Sie beugte sich über die Hand und begann die Wunde zu verbinden. Alexandra war es etwas unangenehm, so weit in den offenherzigen Ausschnitt von Lillys Top hineinschauen zu können, doch spürte sie auch die Wärme, die von Lilly ausging und die offensichtliche Ernsthaftigkeit, mit der sie sich jetzt um Alexandra kümmerte. Eine seltsame Aura umgab dieses Mädchen, das so intensiv nach Tee roch und so zart ihre Hand versorgte.
Darum schloss sie lieber die Augen und konzentrierte sich auf den Schmerz in ihrem Handgelenk.
Aber vor dem Gefühl, das Lillys Hände in ihr auslösten, konnte sie sich nicht verschließen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Gesicht anfing zu brennen und das ihr Atem schneller ging.
„So, fertig. Aber sag mal, dein Handgelenk ist ganz heiß, ich glaub, es ist besser, ich mach dir da auch einen kalten Umschlag drum.“
Alexandra konnte nur Nicken. Was war nur mit ihr los? Dieses Mädchen Lilly brachte all ihre Gefühle durcheinander. Dabei tat oder sagte sie nichts, was sich in irgendeiner Weise zweideutig auslegen ließe. Einzig durch ihre Präsenz und ihre Ausstrahlung. Alexandra fühlte sich mit jeder Minute länger in Lillys Nähe mehr zu ihr hingezogen. Ihre Augen folgten ganz von allein jeder von Lillys Bewegungen, obwohl noch immer dieser Konflikt in ihr tobte, das das völlig absurd und unmöglich sei, so für eine Frau zu empfinden.
Und so gewann der rational denkende Teil von ihr die Oberhand und brachte ihre aufgewühlten Gefühle zur Ruhe.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ sie sich dann von Lilly einen kalten Umschlag um das Handgelenk wickeln, zog sich an und verabschiedete sich höflich, aber kurz.
Nach den ersten beiden Schritten vor die Tür allerdings verließ sie ihre Beherrschtheit, sie drehte sich um.
Und in der Tür stand...niemand. Sie war zu.
Die Hände tief in die Taschen ihres Mantels vergraben, ging sie in Gedanken versunken heim. Sie achtete nicht auf die verärgerten Ausrufe der Leute mit denen sie zusammenstieß. Sie verkamen zu Hintergrundgeräuschen, wie das Quietschen und Klingeln der Tram und der Lärm der anfahrenden Autos an den Kreuzungen.
In ihrer einsamen Wohnung sprang ihr deren Leere und Stille entgegen. Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugedrückt, riss sie Verband und Umschlag mitsamt Mantel und Schal herunter. Und fuhr vor Schmerz zusammen, als sie den angetrockneten Stoff von der Handfläche zog. Die blutende und schmerzende Hand umklammernd, lief Alexandra ins Badezimmer und hielt die Hand unter das kalte Wasser. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel und sie glaubte für eine Sekunde, wieder in Lillys große dunkle Augen zu sehen. Und dann war es um ihre Selbstbeherrschung restlos geschehen: sie ließ den Kopf auf den Rand des Waschbeckens sinken und weinte leise in sich hinein: völlig ratlos und verzweifelt. Ein kalter Schmerz in ihrer Hand zwang sie nach einer Weile sich zu beherrschen.
Sie schöpfte sich mit der freien Hand kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete Hand und Gesicht an einem Handtuch ab, nahm aus ihrem Medizinschrank eine Kompresse und schmierte sie mit Wundcreme voll; wickelte mit der freien Hand eine Binde um ihre Hand.
Und dann holte sie tief Luft und stellte sich wieder vor den Spiegel, die schmerzende Hand an die Brust gepresst, den Tränen nahe. Sie ergab sich Lillys großen dunklen Augen. Sie ließ sich anschauen, in sich hineinschauen. Und auch sie selbst sah durch Lillys Augen. Sie sah sich, ihre Einsamkeit, ihre lächerliche erfolglose Suche nach Mr. Right. Während ihr die Tränen übers Gesicht rannen, zog ihr ganzes einsames Leben an ihr vorbei und verschwand schließlich. Übrig blieb ihr eigenes tränenüberströmtes Gesicht im Spiegel und die Sehnsucht nach Lillys Wärme und ihrem Geruch nach Tee.
Eine Viertelstunde später stand sie wieder vor dem Teegeschäft. Vor der Tür hing jetzt ein metallener Rolladen, ebenso wie vor dem Schaufenster. Auf dem Rolladen vor dem Fenster stand mit Sprühfarbe geschrieben: Wenn Sie das lesen können, ist das Geschäft zu! Sorry!
Mit einem klammen Gefühl im Herzen stand sie vor dem verschlossenen Geschäft und schaute auf die unordentliche Schrift. Langsam und mehr mechanisch wandt sie sich zum Gehen als ihr Blick auf den Torbogen neben den Rolläden fiel. Dort stand auf einen Briefkasten „Lilly Iwanowna Petrowskaja“ geschrieben.
Zaghaft ging sie auf den Briefkasten zu, als könne der ihr sagen, was sie tun solle. Doch dann ging im Treppenhaus Licht an und sie zog sich schnell aus dem Türbogen zurück und trat in den dunklen Schatten einer Hinterhofeinfahrt nebenan. Kurz darauf hörte sie Lillys Stimme und ihr Herz machte einen Sprung...um dann einfach auszusetzen, denn eine Männerstimme antwortete und dann blieben Lilly und der Mann genau vor der Hofeinfahrt stehen und küssten sich.
Mit versteinerter Miene und ohne jegliches Zeitgefühl irrte sie durch die Stadt. Ihr Herz hatte sie in dieser Hinterhofeinfahrt zurückgelassen. Sie hatte das Gefühl, es sowieso nie wieder gebrauchen zu können.
Irgendwie war sie auf einer Brücke über den Kanal angekommen. Sie schaute auf das schwarze Wasser, das leicht schimmerte wie matter Satin. Und mit jeder Minute, die sie länger hinab schaute, verschwanden noch mehr von ihren Gefühlen, als würde das Wasser sie einfach wegsaugen und mit sich nehmen. Zurück blieb nur ein Gedanke: Lilly.
Dann kletterte sie über den Rand und ließ sich fallen.
© Bettie_Mae 22/10/2011
Anmerkung: der Anfang ist sicher einigen in Erinnerung, ich hab nur das Ende verändert.
Bettina