Kurzer Prozess
Kurzer Prozess Ich hatte gerade den Schritt in die Selbständigkeit gewagt und dabei der Pflege meinen Kundenbeziehungen offensichtlich mehr Raum eingeräumt als der zu meiner Partnerin. Schon kurz nach der ebenso konsequenten wie undramatischen von ihr eingeleiteten Trennung, setzte sich bei mir die Erkenntnis durch, dass niemand mit der Feststellung an meiner Tür klingeln würde, ich sei also wieder zu haben. Also machte ich mich auf die Suche nach einer neuen Lebensgefährtin.
Es war die Zeit, als das Internet noch in seinen Kinderschuhen steckte. Partnerschaftsvermittlung war einschlägigen Instituten vorbehalten, die teilweise für ein gefühlt unanständiges Honorar versprachen Mr. oder Mrs. Right fürs Leben zu vermitteln.
Alternativen fand man nur in Magazinen, oder Tages- und Wochenzeitungen, in denen man die Rubriken SIE sucht IHN, ER sucht SIE, und bei den liberalen Blättern auch ER sucht IHN und SIE sucht SIE finden konnte. Bei größeren Blättern waren die oft seitenlangen Annoncen sogar nach Regionen unterteilt.
Das Angebot der lokalen Tageszeitung bot über die Textanzeige mit Chiffre hinaus eine Möglichkeit auf einer Art Anrufbeantworter einen gesprochenen Text zur Selbstdarstellung zu hinterlassen. Dafür waren exakt 60 Sekunden vorgesehen. Ich machte mir einige Notizen und versuchte dann den Text aus dem Stehgreif aufzusprechen, verhaspelte mich aber jedes Mal und gab nach dem fünften oder sechsten Versuch entnervt auf. Die einzige Methode die Zeit effektiv zu nutzen bestand schließlich darin, den gesprochenen Text zunächst auf Band aufzuzeichnen und dann in die Telefonmuschel abzuspielen. Offensichtlich hatte ich den richtigen Tonfall getroffen.
Nach einer Woche traf ein Umschlag mit den bei der Zeitung eingegangenen Bewerbungen ein. Drei der fünf Interessentinnen sprachen mich überhaupt nicht an, und ich schrieb Ihnen höflich aber bestimmt zurück. Die Vierte hatte sich selbst anders entschieden.
Nummer fünf war Sandra, die mir schon am Telefon sofort sympathisch war. Wir verabredeten uns noch am gleichen Nachmittag in einem Café.
Von einem Kabarettisten stammt der Spruch, die kapitalen Fragen im Leben einer Frau seien: "wo komme ich her, wo gehe ich hin, und welche Schuhe ziehe ich dabei an?" Männer fragen sich das wahrscheinlich nur vor Bewerbungsgesprächen oder einem ersten Date. So fand ich mich an diesen Nachmittag mit der Frage vor meinem Kleiderschrank wieder: was ziehe ich an? Sie hatte am Telefon gesagt, sie sei Ärztin. Also entschied ich mich für die konservative Linie.
Im Café hatte ich mich für einen Platz in der Nähe des Fensters entschieden, um sie kommen zu sehen. Zur verabredeten Zeit schritt eine hoch gewachsene schlanke Blondine mit langem glatten Haar vorbei, so dass ich sie zunächst nur von hinten sehen konnte. Sie trug ein klassisches schwarzes Kostüm und dezente Pumps. Ich war also keineswegs overdressed. Als sie das Café betrat, kam sie erst einige Schritte auf mich zu, schaute sich dann aber unsicher um. Ein echter Hingucker, dezent geschminkt, mit für meinen Geschmack wohlproportionierter Oberweite.
War das mein Glückstag?
Ich stand auf, um mich zu erkennen zu geben, aber sie wandte den Blick von mir ab. Zu früh gefreut, dachte ich. Wäre ja auch ein Wunder, wenn...
Sie schaute sich weiterhin um, und wie sich kurz danach herausstellte, lag es nur an ihrer Kurzsichtigkeit, dass sie mich nicht direkt als den auf sie Wartenden erkannt hatte.
Sie lebte in Scheidung und praktizierte als niedergelassene Ärztin in einem kleinen Ort vor den Toren unserer Stadt. Ihr Noch-Ehemann verlange, so erzählte sie mir, als der wirtschaftlich Schwächere eine Unsumme von ihr, so dass sie nur soviel arbeite, dass ihr eigener Lebensunterhalt gedeckt sei. Folglich habe sie mehr als ausreichend Freizeit, die sie mit einer neuen und erfüllenderen Partnerschaft anzureichern gedenke.
Mein Bauchgefühl am Telefon hatte mich nicht getrogen. Der Funke sprang schnell über. Ich weiß nicht, wieviele Cafe Lattes später wir beide mit der Sicherheit voneinander gingen, dass dies nicht unsere letzte Begegnung war.
Die Statistik und Theorien, wann es bei einer neuen Bekannschaft zum ersten Mal zum Sex kommt, waren uns Beiden herzlich egal, als sie wir uns schon zwei Tage später in meiner Wohnung wieder trafen. Es war ein heißer Tag im Juli, und als sie es sich auf meinem roten Long Chair bequem machte, dauerte es nicht lange, bis uns unsere Kleidung nur im Weg war und um uns herum verstreut landete. Wir liebten uns lange, zuerst tastend, dann aber mit immer mehr Leidenschaft. Alles war wie aus einem ungeschriebenen Drehbuch.
Die folgenden Wochen waren wie ein Wellness-Urlaub, in dem man mehr Kalorien verbraucht als man aufnimmt. Ein unbeschwerter Sommer. Ich gestand mir ein verliebt zu sein.
Wir schrieben und neckten uns per SMS und hielten uns gegenseitig auf dem Laufenden über Befindlichkeiten und unsere Lust aufeinander.
Sie stellte mich Freunden vor, mit denen wir Ausflüge unternahmen, und avisierte, dass ich ihre Eltern kennen lernen solle. Es war wie Glück in Tüten, und JA, ich wollte mich bekennen.
Bis der Tag, kam, an dem meine Euphorie einen Dämpfer erleiden sollte.
Sandra lebte aus besagten Gründen in einem kleinen aber feinen Appartement. Mal schlief sie bei mir, mal übernachtet ich bei ihr. Wenn ich meiner Leidenschaft zu kochen nachging, dann am liebsten in meiner eigenen Küche, denn ich hatte sie entsprechend hochgerüstet. Toys for boys. Diesmal stand ich jedoch, nach etwa vier Wochen nach unserer ersten Begegnung, mit zwei Filet Steaks vom Metzger meines Vetrauens, einigen Zutaten und einer Flasche guten Weins vor ihrer Tür.
"Lust auf ein schönes Stück Fleisch?", fragte ich mit einem Seitenblick, als sie öffnete. "Du kennst mich doch", sagte sie, "aber mein dreidimensionaler Appetit ist noch größer, das Fleich ist doch sicher ausreichend abgehangen..." Dabei faßte sie mir sanft in den Schritt und nutzte meine tütenbepackte Hilflosigkeit aus. Ich reagierte sofort.
"Ist auch was süßes im Angebot?" Sie zog meinen Kopf zu sich heran und umspielte meine Lippen mit ihrer Zunge.
Ich packte das Mitgebrachte unausgepackt in die Küche und folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sich bald kein unverwühltes Laken mehr fand. Danach lagen wir noch lange schweigend wie die Löffelchen nebeneinander. Sie führte meine Hand zu ihrer Brust, die ich so wie immer festhielt, wenn sie in meinen Armen einschlafen wollte.
"Hattest Du nicht was von gutem Essen erwähnt...vite, vite!"
Sie sprang unversehens aus dem Bett.
"Sehr wohl, Madame. Ihr untergebenster Diener."
"Ich werde mich um die Tischkultur kümmern." Sie verschwand im Bad.
Ich ging im Bademantel in die Küche und putzte Gemüse. Kochen besteht zum überwiegenden Teil aus purer Logistik. Die Richtige Zutat zur richtigen Zeit ist die halbe Miete. Eine gute Sauce braucht Zeit, daher setzte ich die als erstes auf kleiner Flamme an.
Als es frei wurde, ging ich ins Bad. Ich mache es immer wieder als Gradmesser meiner guten Laune aus, ob ich unter der Dusche singe.
Ich hatte mich gerade von "Somewhere over the rainbow" zu "Fly me to the moon" verstiegen, als Sandra den Kopf durch die Tür steckte.
"Die Nachbarn haben telefonisch nachgefragt, ob es bei uns ein krankes Haustier gibt, weißt Du, was die meinen können...?" Na warte, dachte ich.
Zurück in der Küche blanchierte und dünstete ich Die Gemüse. Das Fleich hatte inzwischen Zimmertemperatur und war bereit zum Braten. Ich hörte Sandra mit dem Besteck klappern, der Tisch würde wie immer stilvoll sein.
Die Küche des kleinen Appartements war innenliegend, ohne Fenster. Als das Fett in der Pfanne heiß genug war, legte ich das Fleisch hinein. Dann schaltete ich den Dunstabzug ein und schloss die Küchentür, damit keine unnötigen Dämpfe durch die Wohnung ziehen würden.
Ich stutzte.
Auf der Innenseite der Tür, die eigentlich immer gegen die Wand offen stand, hing ein großer Jahreskalender. Die einzigen Einträge bestanden in männlichen Vornamem, jeweis versehen mit dem Wort ANFANG und ENDE. Dazwischen Zeiträume von vier bis sechs Wochen. Alle im ersten Halbjahr. Jürgen, Herbert, Urs, Gregor und Manfred. Drei Tage nach Manfred ENDE stand mein Name und ANFANG. Ende offen. Die Zeit setzte aus.
Das Brutzeln des Fleisches in der Pfanne brachte mich in die Realität zurück. Ich wendete die Steaks schnell. Glück gehabt, nicht verbrannt. Nach einer weiteren Minute, in der ich den Jahresplan nicht aus den Augenließ, verfrachtete ich die Steaks in den vorgewärmten Backofen und öffnete die Tür.
Sandra hatte Musik angestellt und offensichtlich nicht bemerkt, dass ich die Tür geschlossen hatte. ."Mein Körper braucht Proteine...", flötete sie.
Was jetzt tun? "Bin gleich soweit", gab ich zurück.
Konfrontieren? Abwarten, was passiert? Vielleicht ist es mit mir anders, vielleicht durchbreche ich die Serie. Die Hoffnung stirbt angeblich immer als letztes. Was mache ich kaputt, wenn sich mein Eindruck als schwachsinniger Irrtum herausstellt? Bin ich paranoid?
Wenn ich - willkommen im Club - auch eine Episode der Serie bin, hab ich allenfalls noch vierzehn Tage.
Ich beschloss nichts zu tun, schließlich fühlte ich mich vorbereitet, oder mindestens gewarnt. Aber würde ich das wegstecken können, ohne dass sie es bemerk? Würde ich noch genauso entspannt mit ihr zusammen sein können? Würde sich ihr mein Körper verweigern, weil statt lustvoller Phantasien ein schnöder Jahreskalender vor meinem geistigen Auge auftauchen würde?
Es kam mir zur Hilfe, dass wir die folgende Nacht ohnehin nicht zusammen verbringen wollten, weil ich am nächsten Morgen sehr früh beruflich zum Flughafen mußte. Damit hatte ich erst mal Abstand gewonnen.
Nach meiner Rückkehr war alles beim Alten. Ich verdrängte, und unsere Nächte gehörten zum Erregensten, das ich erlebt habe. Wir waren ein Paar und wir lebten im Jetzt. Ihr Scheidungstermin war bestätigt worden, was sie gleichsam nervös und hoffnugsfroh stimmte. Alles würde gut werden.
Ich schlief ein weiteres Mal bei ihr, und wir gingen am morgen danach auseinander wie ein altes verschworenes Ehepaar.
Dann trat Funkstille ein. Kein Anruf. Keine SMS.
Anrufbeantworter. Kein Rückruf. Ob etwas passiert war?
Ich hatte noch nie in ihrer Praxis angerufen, und ließ mir zum Schein einen Termin geben. Sie lebte also noch.
Ich schrieb erneut eine Nachricht und erhielt zurück:
ICH DENKE ÜBER UNS NACH. BITTE GIB MIR ZEIT.
Die sechs Wochen waren offensichtlich um. Ich fühlte mich wie ein Idiot.
BITTE GIB MIR ZEIT. Wieviel Zeit?
Ich wartete eine Woche. Dann schrieb ich eine SMS.
Zu meiner Verwunderung rief sie mich umgehend an.
"Kann ich vorbeikommen?" fragte sie. "Klar!"
Es war immer noch Sommer. Ein wunderschöner Tag.
Als mein Büro hatte ich mir ein ebenerdiges Loft gemietet. Es lag in einem großen baumbestandenen alten Industriehof.
Sie fuhr in ihrem offenen Cabrio vor. Mit ihrem großen Hut, einem Seidenschal und einer passenden dunklen Brille hatte sie etwas von Audrey Hepburn. Sie stieg aus und überreichte mir wortlos die Bücher, die sie von mir geliehen hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, stieg sie wieder in ihren Wagen und fuhr davon.
Ich habe sie nie wiedergesehen.
© KWR 2011