Die Strafe
Folgende Geschichte habe ich im Vorjahr (ich weiß nicht mehr genau wann) im Geschichtenspiel angefangen - nun ist sie, so hoffe ich, fertig. Die Strafe
Abnoba, der Schwarzwald, dorthin zogen sie angeblich, zumindest hatte es der Herr einmal erwähnt. Welch wilde Gegend! Bestiae wohin das Auge reichte. Lieber wäre er in Alexandria geblieben. Doch als Sklave musste er dem Herrn folgen.
Quintus Virinius stapfte also missmutig hinter den zahlreichen Wagen der Familie Claudius her und versuchte sich mit der Gegend anzufreunden. Aber es war später Winter, die Schneeschmelze hatte noch nicht richtig begonnen und auf dem nahen Fluss Danubia trieben dicke Eisschollen. Er pustete seinen warmen Atem auf die Finger und versuchte sie warm zu halten. Seit Tagen war keinen von ihnen mehr warm geworden ausgenommen den Herren, die in ihren mit Kohlebecken beheizten Wagen saßen.
„Glacies, glacies nisi“, murmelte er vor sich hin während er sich zurück nach Alexandria wünschte, an den Nil und die Wärme der Sonne. Bitter dachte Quintus an den Grund warum sie fortgezogen waren.
Fabia, die jüngste Tochter des Herrn Marcus Auridius Claudius, war übermütig wie sie war, in den nahen Fluss zum Baden gegangen und wäre beinahe von einem wütenden Nilpferd zertrampelt worden. Diese Tiere sind sehr gefährlich und höchst unberechenbar. In einem Moment scheinen sie noch friedlich im Wasser zu dösen und im nächsten sieht man sich von ihnen umringt und kann nur auf einen schnellen Tod hoffen. In letzter Sekunde hatte er die Herrin retten können. Er hatte sie einfach am Zopf gepackt und die panische junge Frau herausgezogen. Doch mit einer Bestrafung für seine Tat hatte er nicht gerechnet, auch wenn er den Schwur, die Herrin nie anzufassen, gebrochen hatte. Noch jetzt viele Monate später spürte er diese Demütigung als wäre es eben erst geschehen und sie würde nie verschwinden. Er war nun der persönliche Sklave von Fabia und damit er es auch immer blieb, hatte ihn der Herr kastrieren lassen. „Als Eunuch sollst du ihr dein Leben lang dienen, als Strafe dafür, sie angefasst zu haben, auch nur daran gedacht zu haben, in ihr eine willige Gespielin für deine Lust zu sehen, du Tier!“, hatte der Herr getobt.
„O wie ich sie zu hassen gelernt habe“, murmelte Quintus nun vor sich hin. Die Erniedrigung war klebrig wie Honig und haftete in seiner Erinnerung. Jedes Mal, wenn er Fabia betrachtete, schnitt sie tiefer in sein Herz. Es war wie ein Fluch, den der Herr auf ihn geworfen hatte.
„Quintus“, redete ihn einer der anderen Sklaven an. Der Hilfslehrer schrak hoch. „Was ist Puntius?“, seine Stimme klang teilnahmslos wie immer.
„Quintus, weißt du etwas über den Ort, wo wir hingehen? Es hört sich an, als wäre es dort ziemlich dunkel.“ Puntius war ängstlich, und noch sehr jung, fast noch ein Knabe. Besorgt blickte ihn Quintus an, dann lächelte er, was nur selten vorkam und antwortete: „Nein, dort ist es nicht dunkler als andernorts auch. Nur auf die strahlende Sonne und die flirrende Hitze von Africa werden wir verzichten müssen. Dort wird es viele Monde im Jahr so sein wie jetzt. Ist dir kalt, Puntius?“ Der Junge nickte, da nahm Quintus seinen Mantel ab und legte ihn dem jüngeren um die Schultern.
Eine Weile schritten sie schweigend mit dem anderen Personal, dann fragte Puntius leise. „Ich verstehe nicht, warum der Herr so böse geworden ist. Früher, das weiß ich noch, war er nicht so. Da durfte ich schon das eine oder andere Mal mit seinen Söhnen Petrus und Titus spielen. Aber dann passierte irgendetwas und er ist so geworden. Ich sage dir Quintus früher hätte er dir das nicht angetan. Du hast sie gerettet und diese Sache nicht verdient.“
„Hör auf Puntius, das bringt nichts. Er ist eben so und nach seinem Dafürhalten war das die einzig wirksame Strafe. Jetzt liegt mein Leben in der Hand der Herrin.“ Den letzten Satz spie er verächtlich aus, denn Fabia hatte nie den wahren Sachverhalt geklärt, stattdessen hatte sie es so geschildert, als hätte Quintus sie zu vergewaltigen versucht.
Nachdenklich betrachtete er die Landschaft, die im Winter erstarrt zu sein schien. Die Bäume entlang der Straße waren dick mit Schnee bedeckt, ab und zu sah man Rauch aus einer nahen Köhlerei oder einem anderen einsam gelegenen Haus dringen. Doch das war selten. Das Land hier an der Nordgrenze des Reichs war nur spärlich besiedelt, denn die Einfälle der Markomannen verheerten die Siedlungen, so war auch der Grenzwall verstärkt worden und kleine aber schnelle Boote kreuzten auf Danubia, wenn der Fluss nicht zugefroren war. Wenn das Eis den Fluss zum Stehen brachte, war die Gefahr eines Einfalls groß und die Garnisonen waren in erhöhter Alarmbereitschaft.
Stoisch der Kälte von außen und der in seinem Inneren trotzend, marschierte er am Ende der Reihe, nur noch die Wachmannschaft hinter sich wissend. Seit dem tragischen Tag war er oft allein, denn alle hielten ihn für schuldig – alle bis auf Puntius und Florian.
Aber lange währte seine Ruhe nicht, denn von einem Wagen drang lautes Gebrüll: „Quintus! Komm her und richte meine Kissen!“ Es war Fabia, die sich darin sonnte, einen Leibdiener zu haben. Eilig lief er nach vor, denn er wollte nicht mehr Ärger, als er ohnehin schon hatte. Fabia war eine sehr verwöhnte junge Dame, die sich nichts sagen ließ, sie konnte einfach nicht gehorchen. Das war auch der Grund gewesen, warum sie in den Fluss zum Baden gegangen war. Quintus war ihr nachgelaufen und hatte sie gewarnt, immer wieder hatte er versucht, sie vom Wasser wegzulocken, ohne sie anzufassen, aber sie war stur weitergelaufen, direkt auf die Nilpferde zu, von denen nur die Nüstern zu sehen gewesen waren. Das Erste Tier hatte sie aufgeschreckt und es hatte sich von der jungen Frau bedroht gefühlt, also war es laut brüllend und mit offenem Maul auf sie zugeschwommen. Quintus hatte nicht mehr nachgedacht, war ebenfalls ins Wasser gesprungen, hatte Fabia gepackt und herausgezogen. Er hatte panische Angst gehabt, dass ihn das Tier angreifen würde, doch es hatte sich zum Glück mit ihrem Rückzug zufrieden gegeben. Als sie am Land waren, hatte Fabia erneut zu schreien begonnen. Und wie sie gebrüllt hatte! Alle kamen angelaufen, fast die gesamten Sklaven, der Herr und die Besucher waren gekommen und hatten zuerst gestarrt und dann war Marcus Auridius zur klatschnassen Fabia gegangen, hatte ihr seine Toga umgelegt, um ihre Blöße zu bedecken. Danach hatte er seine Tochter aufgehoben und ins Haus getragen. Keiner hatte gefragt was passiert war und niemand wollte anschließend hören, was er, Quintus, zu sagen hatte. Schlimmer noch, der Herr hatte ihn sogar der Lüge bezichtigt, um sein schändliches Verhalten zu kaschieren. Mit aller Macht hatte Quintus versucht, die Lage zu erklären und wie es dazu gekommen war, dass er Fabia angefasst hatte, was ihm der Herr strikt verboten hatte. Nie im Leben hätte er dieses verwöhnte Mädchen auch nur mit einem Finger angegriffen, wenn es nicht in Gefahr gewesen wäre. Noch jetzt hörte er die hasserfüllte Stimme des Herrn in ihm nachklingen, wenn er daran dachte, weswegen er beschuldigt worden war. „Ich werde dich nicht den Hunden vorwerfen, du Abschaum, weil dich meine Tochter als Lehrer und Leibdiener behalten will. Aber du wirst nie wieder Gelegenheit haben, dich ihr auf triebhafte Weise zu nähern.“ Dabei hatte er ganz ruhig gesprochen und Quintus hatte es vor Angst die Sprache verschlagen. Noch einmal war er versucht, sich zu rechtfertigen, doch der Herr schnitt jedes seiner Worte mit einer Geste ab, ließ nichts zu. „Sie hat mir alles gestanden, Quintus, ich bin enttäuscht von dir.“ Damit hatte sich der Herr abgewandt und ihn dem wartenden Arzt und den Leibwächtern übergeben, die ihn während der Prozedur festhalten mussten. „Ich habe ihr das Leben gerettet, Herr! Ist das der Dank dafür, dass du noch eine lebendige Tochter hast?“, hatte er ihm nachgerufen, doch gebracht hatte es nichts. Wenigstens einen Rest an Würde wollte er bewahren und so wehrte er sich nicht, als ihn die kräftigen Männer packten und zu Boden drückten. Rasch führte der Arzt den Schnitt durch und aus dem Mann Quintus war der Eunuch Quintus geworden.
Er wollte nicht mehr daran denken, doch jedes Mal, wenn er zu Fabia gerufen wurde, gingen ihm diese Bilder im Kopf herum. Jetzt herrschte sie ihn an, weil er ihrer Meinung nach zu langsam gewesen war: „Beeil dich etwas, du bist ja lahmer als eine dreibeinige Landschildkröte! Die Kissen hier, die musst du unbedingt aufschütteln und sie dann richtig hinter meinen Rücken stecken, so kann ich nicht liegen, das ist ja eine Tortur.“ So klagte sie in einem fort, nichts schien ihr recht zu sein. Quintus senkte den Blick, als Fabia ein Bein ausstreckte und ihm dabei wie unabsichtlich ihre Knie präsentierte. Doch er achtete nicht darauf, sondern nahm stumm die Kissen, schüttelte sie auf und bat sie dann flüsternd, sich etwas vorzubeugen, damit er seine Arbeit beenden konnte. Fabia lachte laut auf, tat allerdings ausnahmsweise was er von ihr verlangte. „Geh“, war das nächste, das sie sagte und mit einer herrischen Geste scheuchte sie ihn davon. Kaum stand er wieder in der Kälte des sterbenden Tages, hörte er seinen Herrn brüllen. Aber diesmal galt der Ruf nicht ihm selbst. Sie näherten sich einer Ansiedlung. Quintus seufzte dankbar, denn das hieß, dass sie endlich aus dem eisigen Ostwind kommen würden.
Nun wurden die Sklaven rascher und sie liefen eifrig neben und hinter den Wagen her, denn die Leibwächter hatten sich vor und hinter dem Zug positioniert und sorgten so für ein schnelleres Vorankommen.
„Wie heißt diese Stadt?“, fragte Puntius, was Quintus ein leises Lachen entlockte. „Als Stadt würde ich das hier nicht bezeichnen, das ist eine Garnison und rundherum leben die Angehörigen der Legionäre, die sie offiziell gar nicht haben dürfen oder es wohnen ortsansässige Kelten oder Germanen hier, welche Stämme genau an diesem Ort leben, kann ich dir jetzt aber aufs Geratewohl nicht sagen. Freuen wir uns, dass wir hier irgendwo aus dem Wind kommen, mir ist saukalt.“ Schuldbewusst starrte Puntius den Mantel an, den ihm Quintus gegeben hatte, doch der winkte nur ab und meinte: „Lass nur, Filius, wenn ich mir hier den Tod hole, soll es mir recht sein. Aber bei meinem Pech bleibe ich gesund und munter. Die Stadt heißt übrigens Lauriacum. Doch still jetzt, der Herr lässt halten.“
Tatsächlich standen sie vor einem Schenkenhaus, einer Taverna und der Herr redete mit dem Wirt über die Unterbringung der Sklaven. Ehrerbietig verneigte sich der Wirt, denn er vermutete, hier ein gutes Geschäft zu machen. Doch der Herr handelte den Preis immer weiter hinunter und sie dachten schon, hier kein Quartier beziehen zu können, da lenkte er endlich ein und sagte: „Dann brauche ich jetzt für mich und meine Tochter eine warme Mahlzeit und ein Bad.“ Zusammen mit dem Wirt ging er ins Haus und die Sklaven mussten in der Kälte warten. „Er ist ein Unmensch geworden“, murmelte Florian, der Magister. „Aber er hat mich in meine Heimat zurückgebracht. Bald wird er uns nicht mehr brauchen, Quintus.“
„Dich wird er vielleicht in die Freiheit entlassen, aber mich wird er behalten“, murmelte der Angesprochene. „Ach, Quintus, lass den Kopf nicht hängen, das wird schon wieder.“
„Weißt du was“, nun kam Quintus in Fahrt, „nichts wird wieder, nie wieder und jetzt lass mich in Ruhe mit deinen Weisheiten, die kannst du dir dorthin stecken, wo die Sonne nicht scheint.“ Damit drehte er sich um und ging an den Rand der kleinen Gruppe, die sich unter dem Vordach der Schenke versammelt hatte und wartete.
Es dauerte noch eine gute Weile, bis ein Diener erschien und die Wartenden in einen zugigen Schuppen führte, der nach Heu und Tierausscheidungen roch. „Sind wir froh, dass wir aus der Kälte sind, Leute“, sagte der älteste unter den Sklaven. „Braucht der Herr noch jemanden für heute Nacht?“
„Was weiß ich, er wird schon nach jemandem schicken“, kam die mürrische Antwort, damit war ihr Führer auch schon wieder weg.
„Toll wie uns unser Herr wertschätzt“, ätzte Quintus wobei er seinen Beutel auf den Boden warf und sich dann dazu. Kaum hatte er den Boden berührt, wurde ihm auch schon befohlen, sich bei der Herrin zu melden. „Die scheint einen Narren an dir gefressen zu haben, seit du deine Hoden los bist“, stichelte eine der Sklavinnen, was ihr einen giftigen Blick einhandelte, der von eisigen Worten begleitet wurde: „Sei froh, dass du kein Mann bist, Myra, sonst hättest du jetzt meine Faust zu spüren bekommen.“ Damit drehte er sich um und schritt hoch erhobenen Hauptes zur Stalltür hinaus und durch die Hintertür in die Schenke. Dort erwarteten ihn Wärme und der Geruch nach Gebratenem. Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war. Aber das musste noch warten, denn soeben hatte ihn sein Herr entdeckt und winkte ihn zu sich. Quintus trat näher wobei er den Blick gesenkt hielt und murmelte: „Herr, was kann ich für dich tun?“ Eine Weile betrachtete Marcus Auridius den Hilfslehrer und das schlechte Gewissen nagte an ihm. Schon lange wusste er die Wahrheit und jetzt war es an der Zeit, mit seinem Diener zu reden. Also sagte er in gewohnt schroffem Tonfall: „Komm mit in mein Zimmer.“ Erstaunt blickte Quintus auf, folgte dann ängstlich seinem Herrn mit drei Schritten Abstand. Jedes Mal, wenn er bislang mit dem Herrn allein gewesen war, hatte das für ihn eine Verschlechterung seiner Situation bedeutet, nun fürchtete er, dass es wieder so wäre.
Marcus Auridius führte ihn in den hinteren Bereich des Hauses, wo sich die Schlafzimmer für die Gäste befanden. „Komm rein und setz dich, Quintus. Wir haben zu reden.“ Der Herr setzte sich auf einen bequemen Lehnstuhl und Quintus wollte schon zu seinen Füßen niedersinken, doch der alte Mann hinderte ihn daran: „Auf den Hocker, Quintus, ich will nicht auf dich hinabsehen müssen.“ Nun war Quintus noch verwirrter und er konnte es nicht mehr verbergen. Völlig verdutzt setzte er sich seinem Herrn gegenüber auf einen Stuhl und wartete, was er zu sagen hätte. Doch der ließ sich Zeit, begutachtete den Sklaven, registrierte dabei jede noch so kleine Bewegung und Gesichtsregung. Als die Stille zwischen ihnen immer drückender wurde und Quintus schon meinte, ihm müsse vor Angst das Herz stehen bleiben, da endlich redete der Herr. „Quintus, du warst immer ehrlich und bist schon lange in meinem Haus, dienst auch meiner Tochter in einer ehrerbietigen Weise, die sie keineswegs verdient.“ Nun stand der Herr auf, was Quintus ebenfalls auf die Beine brachte. Er war erstaunt und seine Angst nahm weiter zu. Wollte ihn der Herr nun verkaufen, ihn in diesem kalten Landstrich allein lassen, wo er niemanden kannte? Marcus Auridius musste die Panik im Gesicht des Sklaven erkannt haben, denn er setzte sich erneut und wies Quintus an, sich ebenfalls zu setzen. Nur zögernd kam der dieser Aufforderung nach, doch erst als er saß, redete der Herr weiter: „Nun, Quintus, du wirst dich fragen, was ich mit dieser Unterredung bezwecke. Ich möchte, dass du weißt, ich habe meine Tochter durchschaut und dir wurde wahrlich Unrecht getan, das nicht wieder gut zu machen ist. Leider kann ich dir nichts anbieten, was deinen Verlust lindern würde, das wird allein die Zeit richten müssen.“
Quintus blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, jetzt endlich glaubte ihm sein Herr, jetzt wo alles zu spät war und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Am liebste wäre er aufgestanden und gegangen, aber das war undenkbar, so blieb er wo er war, starrte nur auf seine vor Schmutz starrenden, blau gefrorenen Zehen, die aus den löchrigen Lumpen, die er um die Füße gewickelt hatte, hervorschauten. Endlich brachte er mit halberstickter Stimme nur ein Wort hervor: „Herr ...?“
„Ich will, dass du fortan als mein Leibsklave dienst.“
„Herr?“ Quintus war den Tränen nahe und er fragte sich, womit er diese neuerliche Strafe verdient hatte, denn für ihn war es nichts anderes, den Herrn jeden Tag zu sehen und zu wissen, wie ungerecht er selbst behandelt worden war.
„Warum, Herr? Was habe ich dir getan?“, fragte er. Ohne darüber nachzudenken waren ihm die Worte entschlüpft, nun senkte er erschrocken das Haupt noch weiter, weil er Schläge fürchtete. Doch nichts dergleichen geschah. „Du siehst es als Strafe, Quintus? Ich hatte es als Auszeichnung gedacht, aber wenn du nicht willst, dann …“
„Herr, ich … ich … ich fühle mich ja geehrt, aber … aber … Herr … das …“
„Verstehe“, murmelte Marcus Auridius. „Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Geh und schlafe über das Angebot, wir reden morgen weiter.“ So schnell es der Anstand zuließ, sprang Quintus auf und hastete zur Tür, doch die Stimme des Herrn ließ ihn noch einmal innehalten. „Sag den anderen, dass es bald eine warme Suppe gibt. Ich weiß, dass ihr halb erfroren seid. Nun, geh.“ Quintus verbeugte sich tief, dann drehte er sich abermals um und rannte beinahe aus dem Haus.
Im Stall angekommen, schloss er rasch die Tür und lehnte sich dagegen. Geräuschvoll atmete er aus, was ihm einige erstaunte Blicke einbrachte. „Lasst mich in Ruhe“, meinte er matt. Noch wusste er nicht, was er machen, wie er auf das Angebot des Herrn reagiere sollte. Einerseits war es eine große Ehre und ein Aufstieg in der Hierarchie der Sklaven, andererseits führte es ihn immer vor Augen, wer für seinen Zustand verantwortlich war. Er warf einen sorgenvollen Blick auf die junge Sklavin, die er für seine Freundin gehalten, sich aber von ihm gewendet hatte, als er entmannt worden war. Sie würdige ihn noch immer keines Blickes. Quintus nahm an, dass Eppie glaubte, er hätte die Herrin vergewaltigt und seine Strafe wäre noch zu mild ausgefallen. Die einzigen, die ihm vorbehaltlos glaubtem waren Puntius und Florian.
„Der Herr lässt uns bald warme Suppe bringen“, brachte er schließlich mühsam heraus, dann ging er zu seinem Bündel und suchte sich einen Platz, wo er sich endlich etwas aufwärmen konnte. Puntius kam zu ihm und breitete den Mantel über seine Schultern. „Mein Freund, danke für den Mantel, aber du scheinst ihn jetzt dringender zu brauchen. Was wollte die Herrin von dir?“ Er ließ sich auf den kalten Boden nieder und schaute gebannt in Quintus Gesicht, der ins Leere zu starren schien. Schließlich sagte er beinahe tonlos: „Der Herr wollte mich sprechen.“ Mehr konnte er noch nicht sagen, doch Puntius ließ nicht locker und fragte sogleich weiter: „Warum?“ Nun wandte Quintus sein Gesicht vollends ab und starrte die Holzwand an. Nach einer Weile erst antwortete er ebenso müde wie er sich fühlte: „Das weiß ich auch nicht so genau. Lass es gut sein, Junge. Geh zu den anderen und lass mich nachdenken. Aber von der heißen Suppe kannst du mir nachher etwas bringen, wenn du magst und sie dich lassen.“
„Ist gut Quintus, ich lasse dich denken, darin warst du immer schon gut und von der Suppe bringe ich dir. Die können dich nicht immer wie einen Aussätzigen behandeln, das dürfen sie nicht.“
„Lass gut sein“, wiederholte Quintus, doch diesmal schaute er seinen jungen Freund an. „Danke“, fügte er noch hinzu, wobei er sich zu einem schalen Lächeln zwang. Als Puntius weg war, wickelte er den Mantel um seine Schultern, danach schaute er an, was der Frost mit seinen Zehen angestellt hatte. Von der Feuerstelle hörte er leises Reden und Lachen, dann ging das Tor auf und der Wind brachte zwei Männer, die einen großen Kessel zwischen sich trugen, in den Stall. Nur kurz schaute Quintus zu ihnen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit erneut den blauweiß gefrorenen Zehen zu. ‚Ich sollte besser aufpassen bevor die noch brandig werden. Schade, dass es hier kein warmes Wasser gibt. Mir ist so verdammt kalt. Warum hat mir der Herr dieses Angebot gemacht? Will er sein Gewissen rein waschen? Warum?’ So gingen seine Gedanken von einem Thema zum nächsten, nur um wieder bei der großen Frage nach den Beweggründen seines Herrn anzukommen. Schließlich nahm er den Mantel von den Schultern und wickelte die Zehen darin ein. Sie schmerzten, als die Blutzirkulation in Gang kam und er stöhnte verhalten. Gerade da kam Florian mit der Suppe zu ihm. „He, junger Lehrer, geselle dich zu uns, du kannst nicht immer allein sein.“
„Du weißt, warum, also spar dir deine gutgemeinten Ratschläge, außerdem bin ich kein Lehrer, war es nie und werde es nie sein.“
„Na, nicht so bitter. An dem was dir widerfahren ist, kann keiner etwas ändern. Sei den Göttern dankbar, dass er dir das Leben gelassen hat. Du weißt, weswegen man dich beschuldigt hat. Ein anderer hätte dir sofort den Hals aufgeschnitten und dich den Hunden zum Fraß vorgeworfen.“
„Ach hör schon auf. Ich weiß, warum er es nicht getan hat. Ich weiß es und jetzt …“, er atmete bewusst, um seinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen, dann fuhr er ruhiger fort: „Danke, dass du mir zu essen gebracht hast. Das andere, lass es bitte ruhen.“ Damit wandte er sich dem Inhalt der Schüssel zu und begann sogleich die heiße Flüssigkeit zu trinken. Florian ahnte, dass mit seinem Lehrling mehr als körperlich etwas nicht in Ordnung war, aber er drang nicht weiter in ihn und ging zu den anderen zurück.
Quintus hörte, wie sie über ihn lästerten, selbst Florian hielt sich nicht zurück, dabei hatte er ihn immer für einen Freund gehalten. Nur Puntius versuchte, die schlimmsten Bemerkungen zu unterbinden, aber er war noch zu jung, um sich nachhaltig Gehör zu verschaffen. Schließlich gab er auf und trottete missgelaunt zu Quintus. „Lauter Idioten“, brummte er. „Und am schlimmsten ist Eppie, diese dumme Gans.“ Die hörten sie gerade über Sklaven reden, die sich gewaltsam nahmen, was sie freiwillig nicht bekamen. „So jemand darf einfach vom Herrn nicht am Leben gelassen werden!“, schrie sie zornig wobei sie zu Quintus blickte. „Ach, halt den Mund!“, konnte sich Quintus nun doch nicht beherrschen. „Kennst du die Wahrheit? Warst du dabei?“ Er streifte den Mantel von den Füßen, sprang auf, verschüttete etwas Suppe dabei und ging nun auf die anderen zu. „Wer von euch war dabei? Wer von euch weiß, was damals tatsächlich geschehen ist? Na? Keine Antworten von euch neunmalklugen Sklaven? Nichts als leeres Gewäsch ist das, was ihr von euch gebt! Seht zu, dass ihr mir vom Leib bleibt und … und …“ Vor unterdrücktem Zorn begann er zu stottern, dann verstummte er resigniert, weil er ahnte, wie die Diskussion ausgehen würde. Also drehte er sich um und ging zu seinem Platz zurück. „Geh zum Feuer, Puntius“, herrschte er den Jüngling an doch der blieb wo er war, trank seine Suppe und schaute abwechselnd zu Quintus und den anderen. „Ich dachte immer, ein Eunuch wäre ruhiger und sanfter.“
„Blödsinn. Du siehst ja, wie ich mich aufrege, aber es stimmt schon, ich bin insgesamt viel ruhiger geworden.“ Er seufzte tief auf. Einerseits hatte Puntius recht, er war viel weniger reizbar als vor der Amputation. Abermals dachte er daran und selbst in der Erinnerung ließen ihn der Schmerz und die Demütigung zusammenzucken. Etwas milder sagte er nach einer Weile: „Geh ans Feuer, Filius, ich sehe wie du frierst.“
„Du frierst auch“, stellte sich Puntius stur, doch Quintus lachte nur darüber und wiederholte seine Aufforderung. Endlich gab der Jüngere nach und Quintus blieb allein mit seinen Gedanken zurück.
Er schlief wenig in dieser Nacht. Das Gespräch mit dem Herrn ging ihm nicht aus dem Kopf und er wusste, dass es am nächsten Tag weitergehen würde und er eine Entscheidung treffen musste.
Endlich, der Sturm draußen und der Sturm in ihm hatten nachgelassen, schlief er ein. Doch schon sehr früh holte ihn ein Tritt aus dem sanften Vergessen, den Morpheus brachte. Schlaftrunken rieb er sich die Augen, da traf ihn Eppies verächtliche Stimme. „Geh zum Herrn, Nichtmann.“ Innerlich zuckte er zusammen, denn er hatte sie geliebt und er hatte gedacht, sie würde ihn auch lieben, doch jetzt war davon nichts mehr übrig. „Eppie, wenn du mir nur glauben würdest“, murmelte er. „Nichts anderes wäre mir wichtiger. Ich habe das dumme Ding vor den Nilpferden gerettet …“ Doch sie war schon wieder weg und an ihre Arbeit gegangen.
Er fühlte sich so trostlos wie er schmutzig war. Seit Tagen hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, sich ordentlich zu waschen, sich frische Kleidung anzuziehen oder auch nur zu rasieren. Alles hatte sich dem Tempo und den Wünschen des Herrn unterzuordnen, besonders das Leben der Sklaven, die nur Dank der Güte des Herrn am Leben waren. Bei Quintus war es so und zwar in vielfacher Hinsicht.
Quintus war schon einmal vor einer Hinrichtung gestanden doch dann hatte ihn Marcus Auridius gekauft und in sein Haus gebracht, das war vor vielen, vielen Sommern gewesen und Quintus konnte damals kaum laufen, so klein war er noch gewesen. Sein damaliger Herr wollte sich nicht mit Sklavennachwuchs belasten und so war es schieres Glück, dass er noch am Leben war. Er wusste, was er seinem Herrn zu verdanken hatte, deshalb war er auch nie ungehorsam oder störrisch, zumindest nicht zu offensichtlich, doch die junge Herrin trieb es allzu bunt mit ihren Launen, und ihren Lügen wurde nur zu gern geglaubt. Es war nicht das erste Mal, dass Fabia ihm die Schuld an etwas gegeben hatte, das sie angestellt hatte. Jedes Mal hatte er die Strafe ertragen, auch diese letzte, doch die hatte ihn beinahe gebrochen.
Entschlossen, sich von diesen Erinnerungen jetzt nicht fertig machen zu lassen, stand er auf, strich sich das Haar aus der Stirn und die Tunika glatt, dann erst ging er in die Taverna hinüber.
Der Herr lag noch bei Tisch, doch man erlaubte ihm, hinzuzutreten und zu warten. Abermals traf ihn der angenehme Geruch frischer, warmer Speisen was ihm seinen eigenen Hunger bewusst machte. Fabia war ebenfalls anwesend und schenkte ihm eines, ihrer berüchtigten, sehr süffisanten Lächeln, dazu biss sie herzhaft in ein Stück Fladenbrot, das sie ordentlich mit Honig bestrichen hatte. Die gelbe, zähflüssige Masse, tropfte vom Brot und benetzte ihre Finger. Genussvoll leckte sie darüber und grinste danach wieder unverschämt, dann zwinkerte sie Quintus zu. Der senkte verlegen den Blick. Er fand es einfach nur widerlich, wie sich die junge Herrin präsentierte. Endlich drehte sich der Herr herum und winkte Quintus, näher zu treten, dann sprach er: „Ich will, dass Fabia auch hört, was ich zu sagen habe, Quintus, alle anderen habe ich hinausgeschickt. Es geht nur uns drei etwas an.“ Zuerst heftete er seinen Blick auf Fabia, danach auf Quintus, als keiner der beiden etwas sagte, fuhr er schließlich fort: „Mein Angebot von gestern ist veraltet. Heute Nacht habe ich mir die beste Lösung für uns alle ausgedacht.“ Er machte eine theatralische Pause, trank einen Schluck Tee, danach fuhr er fort und blickte dabei nicht Quintus, sondern seine Tochter an: „Ich schenke dir die Freiheit Quintus und du wirst dafür meine Tochter heiraten, die schon weit über das vernünftige Alter, zu heiraten hinaus ist.“ Quintus war sprachlos, das war ein Angebot, über das nachzudenken sich lohnte. Fabia war bei den Worten ihres Vaters erstarrt, der Honig tropfte vom Brot und landete unbemerkt auf ihren Fingern und dem Kleid.
Endlich kam Leben in Quintus und er begann zu lachen, wie er schon lange nicht mehr gelacht hatte. Tränen rannen ihm dabei über die Wangen und er wusste nicht wie er dagegen angehen sollte. Schließlich, als Marcus Auridius schon ärgerlich wurde, sagte er, bewusst ernst und im neutralen Tonfall: „Herr, die Strafe, die du mir erteilst, die nehme ich an, aber ich mutmaße, für deine Tochter ist die Strafe noch härter als für mich. Die Strafe ist gerecht. Doch sag mir, Herr, wie kamst du auf die Idee?“
„Setz dich zu mir, Filius“, sagte nun der Alte und beachtete seine Tochter nicht mehr, die nur noch fassungslos starrte und ihr Pech nicht glauben konnte. Quintus setzte sich an den Rand der Liege und schaute seinem Herrn ins Gesicht. „Im Traum hatte ich eine Erscheinung und ich fand die Lösung gut. Ich kaufe euch hier ein Haus, lasse euch zwei, drei Sklaven hier und etwas Startkapital, dann müsst ihr zusehen, wie ihr selbst etwas aus eurem Leben macht.“
Endlich regte sich auch Fabia. Mit einer derartigen Wendung der Dinge hatte sie nie gerechnet, denn der Vater war seit dem Tod der Mutter immer auf ihrer Seite gestanden, hatte sie gegen jeden unterstützt und war immer für sie dagewesen, das schien sich nun geändert zu haben. „Pater, warum soll ich diesen Wicht heiraten? Wir können doch nicht einmal Kinder …“ Sie bekam keine Gelegenheit, den Satz zu Ende zu sprechen, da unterbrach er sie böse: „Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Wenn du gleich die Wahrheit gesagt hättest, Kind, dann sähe die Sache anders aus. Aber so, hast du die Strafe auf dich selbst herabbeschworen. Ich werde meinem treuen Sklaven, der meine Tochter vor dem sicheren Tod gerettet hat, die Belohnung geben, die ihm zusteht – spät aber doch.“ Neuerlich wandte er sich an den immer noch erstaunten Quintus und sprach weiter: „Noch in dieser Stunde wirst du die nötigen Papiere in Händen halten, Quintus und ein Zimmer hier im Haus beziehen, dann kannst du dir in Lauriacum standesgemäße Kleidung besorgen. Welchen meiner Sklaven soll ich für dich abstellen?“ Quintus dachte keine Sekunde darüber nach, sondern antwortete sogleich: „Puntius, Herr, und Eppie. Eppie kann der Herrin dienen und Puntius wird mir zur Hand gehen. Darf ich ihn heute schon mitnehmen oder brauchst du ihn noch?“
„Nimm ihn ruhig. Du hast eine sehr weise Entscheidung getroffen. Wir anderen werden nur noch den Winter über im Norden bleiben, dann werde ich zurück nach Ägypten gehen, hier ist es für meine alten Knochen zu kalt.“
So kam es, dass Quintus der Eunuch, eine Ehegattin bekam, ein eigenes Haus führte und somit der Schuldige bestraft worden war.
(c) Herta 2011