Raum Siebzehn
© Nisham 10/2011Tassilo erschrickt einen Moment lang, als er die Nachricht auf seinem Bildschirm liest. „10 Uhr 43: Raum Siebzehn“ steht da nur.
Er hat schon davon gehört, dass diese Meldung nur so kurz ist. Und von Raum Siebzeh weiss er nur, was so gemunkelt wird. Niemand will genaueres wissen. Und die, die mal dort gewesen sind, erzählten noch weniger.
Tassilo hat noch ein wenig Zeit, sich beim Computer abzumelden. Noch mal aufs Klo. Niemand von dem anderen Mitarbeiter schaut auf, als er seinen Platz verlässt. Er nimmt den Aufzug. Der Scanner erkennt Tassilo und fährt automatisch ins 23. Geschoss, dort, wo Raum Siebzehn liegt. Ach ja, der Aufzug gleitet nach unten, denn das ganze Gebäude ist unterirdisch angelegt. Wie tief in den Boden gebaut worden ist, weiss Tassilo nicht. Wer in einem solch exklusiven Forschungsinstitut arbeitet, erfährt nur, was er wissen muss und weiss, dass es besser ist, nicht zu fragen.
Tassilo ist Mathematiker und Physiker; er arbeitet im Bereich der Algorithmen-Konstruktion. Ein für viele Menschen etwas abstruses Thema, doch Tassilo- liebt diese Arbeit überaus. Es sei alles andere als eine trockene Materie, meint er immer, wenn er gefragt wird.
Nun steht er vor einer weißen Wand, auf der eine wandhohe „17“ bläulich schimmert. Da ist keine Tür zu erkennen. Tassilo weiss, dass er pünktlich ist. Eine Stimme, eine sehr freundliche, warme Stimme, fordert Tassilo auf einfach durch die Wand zu gehen. Tassilo zögert ein wenig. Er streckt den Arm aus und bemerkt, wie seine Hand durch diese bläulich schimmernde „17“ widerstandslos hindurchgeht. Also folgt er seiner Hand. Vor einem Augenblick stand er vor der „17“ und nun ist der Flur wieder vollkommen leer.
Tassilo bleibt stehen. Es ist hier sehr hell. Alles ist hell, jedoch ohne ihn zu blenden. Er weiss nicht so recht, ob es nun einfach hell ist oder weiß und hell. Und der Raum scheint dadurch keine Wände zu haben. Als er mit der Hand hinter sich tastet, um die Wand – oder war’s doch eine Tür? – zu ertasten, greift er ins Leere. Zögerlich geht er einige Schritte vor. Er dreht sich um seine eigene Achse. Doch es ist nur hell, überall gleich hell. Und die Lichtquelle ist nirgendwo auszumachen. Nun ist es wie eine Stimme in seinem Kopf, die ihn auffordert, sich zu bewegen, wie er gerne möchte, nach vorne, im Kreis, oder Haken schlagen. Immer noch zögerlich setzt sich Tassilo in Bewegung. Er breitet die Arme aus, um rechtzeitig ein Hindernis zu erspüren, falls er es in diesem hellen Licht nicht sehen kann. In seinem Kopf sagt ihm die Stimme, dass er sich ruhig schneller bewegen darf, auch renne dürfe er, er müsse keine Angst haben irgendwo gegen ein Hindernis zu prallen. Nun traut sich Tassilo: er legt einen kurzen Spurt ein, dreht sich nach links und rennt da etliche Schritte. Tassilo versucht nicht zu verstehen, sondern er rennt und springt und hüpft, schlägt Haken, bewegt sich ii weiten Kreisen. Es ist ein unglaubliches Gefühl, das von ihm Besitz ergreift. Raum Siebzehn scheint ein Raum zu sein, der kein Raum ist. Oder nicht wirklich. Tassilo hat keine Ahnung, wie lange er schon da drin ist. Er ist etwas außer Atem. Klar, er ist fit, treibt Sport. doch nun hat er sich hier auch verausgabt mit dieser Rennerei, dem Hüpfen und Springen. Er hält inne. Dreht sich langsam, ganz langsam um seine eigene Achse und schaut in diese unglaubliche Helligkeit. Nein, da ist nichts zu erkennen. Keine Wand, keine Decke. Und, wenn er ehrlich sein will, auch kein Boden, obschon er ja fest darauf steht.
Nun geht er ganz langsam weiter, ein, zwei, drei Schritte. Blinzelnd steht er im Flur. Draußen, vor der weißen Wand, wo diese bläulich schimmernde „17“ steht. Ohne einen Gedanken zu verlieren schreitet er zum Aufzug. Steigt auf seine Etage aus und geht an seinen Arbeitsplatz. Auf dem Bildschirm seines Computers steht nun: „Es ist 10 Uhr 43, danke, dass die im Raum Siebzehn waren“.