Stillstand
Sie kniete vor der Waschmaschine. Socken, T-Shirts, dunkle Handtücher stopfte sie hinein, alle hellen Teile sortierte sie aus für einen anderen Waschgang. Kalkentferner dazu, eine Kappe flüssiges Waschmittel, Temperatur auf dreißig Grad und dann der Einschaltknopf.Ihre Tränen flossen unablässig, während sie die eingespielten Handgriffe tätigte. Sie fühlte sich so einsam, dass sie sogar Zärtlichkeit für die benutzte Wäsche empfand, die sie jahrzehntelang achtlos und manchmal sogar mit Abscheu in die Trommel gestopft hatte.
Sie hatte immer gewusst, dass die Kinder sie eines Tages verlassen würden. Es war ja schließlich normal, dass sie erwachsen wurden und das Haus verließen. Doch die lange Zeit, die scheinbare Konstante, die über die Jahre ihrer Anwesenheit entstanden war, hatte sie diese drohende Entwicklung verdrängen lassen.
Sie strich gedankenverloren ein paar Spültücher glatt.
Leben ist Veränderung, das hatte sie sich immer gesagt, und tatkräftig angepackt, was das Leben ihr an Aufgaben vor die Füße warf. Schulprobleme, Liebeskummer, Umzüge, Streit, Krankheiten, Jobwechsel – alles hatte sie angenommen, bearbeitet und dabei den Karren immer irgendwie aus dem Dreck gezogen.
Behäbig drehte sich die Trommel und schob die dunkle Masse durch die Seifenbläschen.
Neue Tränen quollen aus ihren Augen, als sie an schmerzhafte Momente dachte, die sie in der Vergangenheit überstanden hatte:
Als ihr Sohn nach einem Verkehrsunfall wochenlang im Krankenhaus lag; als ihr Mann seinen Job verloren hatte und sie nicht wussten, wie sie die nächsten Monate finanziell überstehen sollten; als ihre Tochter
sitzengeblieben war und tagelang apathisch in ihrem Zimmer saß; als ihr Mann ihr einen Seitensprung gestand, just als sie ihre Unterleibsoperation überstanden hatte. Und die schwierigen Zeiten während und nach der Scheidung, als sie trotzdem ein Familienleben zu erhalten versuchte. Immer hatte es Hoffnung auf ein besseres Morgen gegeben, und sie hatte für dieses Morgen gearbeitet und es wieder zum Guten gestaltet.
Schmutziges Wasser gurgelte in den Abfluss nach dem Hauptwaschgang.
Der Aufgabe, die jetzt anstand, fühlte sie sich nicht gewachsen. Sie konnte Probleme bearbeiten, sie konnte Streit schlichten, sie konnte arbeiten bis zur Erschöpfung – aber was jetzt von ihr verlangt wurde,
überstieg nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihr Vorstellungsvermögen.
Mit schrillem Quietschen setzte sich die Waschmaschine in den Schleudergang.
Ihre Tochter war zu ihrem Freund nach Amerika gereist und plante die dortige Heirat. Am Telefon hatte sie gesagt: Ach Mama, wir heiraten nur ganz schnell, es lohnt sich nicht, dass du kommst. Wünsch uns einfach Glück.
Ihr Sohn war zu Semesterbeginn nach Berlin gezogen. Als sie ihn fragte, ob sie ihn besuchen sollte, um ihm beim Einrichten des Appartements zu helfen, sagte er nur: passt schon Mama, ich komm zurecht.
Zu Weihnachten würden sie beide nicht kommen. Ihre neuen Leben hielten sie an ihren neuen Orten.
Ihr geschiedener Mann, mit dem sie bisher immer noch Weihnachten gefeiert hatten, hatte ihr von seiner neuen Freundin geschrieben,
und wie sehr er sich auf das erste Weihnachten mit ihrer Familie und den kleinen Neffen freuen würde.
Ein paar letzte Umdrehungen und die Maschine stand still. Sie öffnete die Tür und zog die ausgewrungenen Wäschestücke heraus.
©tangocleo 2011