Es gibt sie doch…
Noch nie hatte ich es mit einer Frau so lange ausgehalten. Mit Angela, meiner Angie, war ich jetzt mehr als ein halbes Jahr zusammen. Und das Verrückteste war, dass ich mir gar keine Gedanken darüber machte. Ich wunderte mich nicht mehr darüber und fühlte mich dabei einfach wohl. Ich musste nicht immer hinterfragen, warum sie mich faszinierte, warum ich mich nach ihr sehnte, ob das noch lange so weitergehen würde und ob und wann mich andere Frauen wieder mehr interessieren würden.
Ich, der ich niemals vorher einem Menschen die drei berühmten Worte gesagt hatte, mich sogar schämte, sie meinen Eltern gegenüber zu verwenden und den Frauen vor ihr nur `Ich mag dich` oder `Ich will dich` gesagt hatte – ich konnte ihr jeden Tag `Ich liebe dich` sagen, es ihr schreiben oder ins Ohr flüstern.
In der ganzen Zeit seit wir uns kennengelernt hatten, hatte ich ihr so oder ähnlich an jedem einzelnen Tag gesagt, was sie mir bedeutete. Der emotional verkrüppelte Frauenheld, der ich gewesen war, wurde geradezu abhängig davon, es jeden Tag von ihr zu hören und liebte es, es ihr zu sagen.
Ich erinnere mich an einen sonnigen Herbsttag im Park, als ich ihr ins Ohr geflüstert hatte, ich könnte meine Liebe für sie in die Welt hinausschreien. Sie meinte dazu einfach „Dann tu es.“
Ich schämte mich und grinste verlegen. „Man sagt das halt so“. Ich Idiot.
Sie drehte sich um und tippte einem älteren Herrn, der mit seiner Frau hinter uns saß, auf die Schulter und sagte: „Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich diesen Mann hier wie verrückt liebe. Das wollte ich mit ihnen teilen. Danke.“
Der alte Herr drückte seine Frau an sich und lachte. „Und ich liebe sie nach 45 Jahren immer noch. Schön, nicht?“
Angie umarmte und drückte ihn, stand dann auf und zog mich weiter. Und sie erzählte es an diesem Tag noch ungefähr dreißig Leuten: Wildfremden, Verkäufern, einem Taxifahrer und ein paar Fußball spielenden Kindern.
„Hallo, übrigens, ich liebe diesen Mann hier. Über alles.“ Die meisten reagierten überrascht, aber positiv. Manche schüttelten den Kopf, aber sie lächelten und schauten mich neidisch an.
„He, ich bin verliebt, müsst ihr wissen. Und zwar in den hier. Er ist fantastisch. Ich wünsche euch, dass ihr auch schon einmal so verliebt wart – das ist nämlich großartig.“, sprach sie ein paar ziemlich gelangweilt aussehende Leute an einer Bushaltestelle an.
„Na und?“, meinte ein Mittfünfziger ziemlich laut und genervt, während er die Arme verschränkte und sich abwandte. Angie setzte sich neben ihn.
„Finden Sie das nicht schön? Ich meine, jeder möchte das doch, sie sicher auch. Und vielleicht freut es Sie zu hören, dass es so was wie die große Liebe tatsächlich gibt!“
Ich stand mit den Händen in den Hosentaschen daneben und grinste die anderen Damen und Herren an, die abwechselnd neugierig zu ihr herüberschauten und dann wieder mich offenkundig musterten. Sie alle nahmen regen Anteil daran, wie liebevoll Angie dem Mann zusprach.
„Quatsch. Wen interessiert´s? Was wissen Sie schon? Ich hab da auch so meine Erfahrungen gemacht. Und eins sag ich Ihnen – es muss nicht so gut ausgehen, wie sie jetzt hoffen. Alles geht einmal vorrüber.“
Angie überlegte und faltete ihre Hände im Schoß, als ob sie sich zurückhalten musste, um den Kerl nicht zu umarmen. Er sah sehr traurig aus und ging gleich in die Defensive. Da musste mehr dahinter stecken. Mir wäre lieber gewesen, wenn sie es dabei belassen hätte und wir einfach weiter gegangen wären. Doch dazu kannte ich sie inzwischen gut genug. Das würde sie nicht einfach hinnehmen können – diesen Mann so enttäuscht und ohne Hoffnung sitzen zu lassen.
„Sie haben bestimmt Erfahrungen gemacht, von denen ich keine Ahnung habe. Wie sollte ich auch? Und sie müssen sie mir nicht erzählen, aber ich würde schon gern wissen, warum sie sich nicht für Andere freuen können.“
„Ach, freuen soll ich mich? Weil Sie das erleben, was ich auch mal hatte und verloren hab?“
Man sah dem Mann an, dass er sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte, aber auch das kannte ich inzwischen von Angie – man musste ihr einfach sagen, was man dachte, musste ehrlich zu ihr sein, wenn sie einen so fragend ansah und ihre schönen Augen einen durchbohrten, als ob sie eigentlich schon alles wüsste, was es zu sagen gab.
Ganz sanft fing sie wieder an zu reden, nicht an ihn direkt gewandt. Sie sah auf ihre Hände, ließ ihn in Ruhe, bedrängte ihn nicht, aber ihre sanfte Stimme war trotz des Verkehrslärms um uns herum so eindringlich, dass die Menschen an der Bushaltestelle, mich eingeschlossen, den Atem anhielten. Wir lauschten, als spielte sie auf einer Bühne und man dürfe kein Wort verpassen.
„Es tut mir leid, dass sie etwas so Schönes verloren haben, ehrlich. Aber ich freue mich für Sie, weil Sie es immerhin erlebt haben. Sie wissen, wovon ich spreche. Diesem Gefühl, als ob man ohne den anderen nicht mehr leben möchte. Dass man auf einmal einen Sinn gefunden hat, für den es sich lohnt, weiterzumachen. Dass man nicht mehr allein ist.“
Sie warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu, und der Mann, mit noch immer nach unten gezogenen Mundwinkeln und verschränkten Armen, lehnte sich fast unmerklich ein wenig zurück. Er hörte zu.
„Es muss schrecklich sein, wenn man so etwas verliert. Aber trotzdem möchte ich es genießen, so lange es gut geht, und mir keine Sorgen machen. Und mich auch später, wenn ich vielleicht doch irgendwann wieder allein bin, mit einem Lächeln auf dem Gesicht daran erinnern. Das wünsche ich ihnen auch.“
Sie legte eine Hand auf sein Knie und wir anderen, Zuschauer und Wartende auf den Bus Nr. 17, sahen zu, wie der Mann ihre Hand nahm und sachte drückte.
Dann stand Angie auf, und es hätte mich nicht gewundert, wenn wir jetzt von allen Seiten Applaus zu hören bekommen hätten.
Sie lächelte ihn an, nickte zum Abschied. Dann kam sie strahlend zu mir, nahm meine Hand und wir gingen weiter, nach Hause.
Ich glaubte, sie nicht noch mehr lieben zu können, und dann tat sie so etwas Unglaubliches. Mein Herz sprang mir fast aus der Brust.
Ich selbst hatte danach nur noch die Möglichkeit, ihr durch meine Taten deutlich zu machen, dass ich genauso empfand. In dieser Nacht liebte ich sie bis zum Morgengrauen mit meinem Körper, aber ich bin sicher, sie spürte, dass ich ihr meine Seele gab.
(c) dornroeschen67 2011