Neues aus dem Irrenhaus des Lebens
Neues aus dem Irrenhaus des Lebens Ich, wie ich heiße spielt eigentlich keine Rolle, denn ich bin die Schwester, arbeite im Altersheim. Menschenskinder, was einem da so alles unterkommt, von netten liebreizenden alten Damen, die einem das Messer in den Rücken bohrten, wenn sie könnten bis hin zu offen aggressiven Mütterleins und Väterleins, die es lieben, einem den Mittagspamp auf die frische Uniform zu kippen. Ich mag das – mehr oder weniger, ohne dabei masochistisch zu sein oder dominant. Nein. Es ist einfach so, dass ich die Leute mag, diese unterschiedlichen Typen. Diese frischen alten Gesichter, die einen aus rotgeränderten Augen mustern und am liebsten nie mehr geöffnet werden würden, weil sie schon zu viel Leben gesehen haben. Diese Falten um die Augen, die schon mehr Fläche bilden als die Gebirgslandschaft der Alpen. Die knorrigen Hände, vom Alter gezeichnet, im wahrsten Sinn des Wortes gezeichnet, denn sie tragen Male, die Altersflecken. Die sich mühsam um einen Becher krümmenden Finger oder sie greifen nach einer Berührung heischend nach einer Schwester und erwischen nur Luft. Traurig? Traurig. Ja. Nein. Manchmal. Immer ist zu wenig Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Nicht nach Luft greifen lassen. Nicht die Luft willst du haben, Mensch. Du willst Haut fühlen, die nicht die deine ist. Du willst Wärme fühlen, die du in dich aufnehmen kannst. Und manchmal willst du auch zuschlagen. Dich der Hilflosigkeit erwehren.
Ich geh in Deckung.
Es gab da eine Frau, eine ganz besondere, wie ich finde, weil, die war echt hintertrieben. Eine Dame eben. Der alten Schule. Handschuhe. Häkelspitzen am gestärkten Blusenkragen. Kleider. Frisch geputzte Schuhe. Handtasche. So erschien sie täglich zum Frühstück. Zum Mittagessen. Und zum Abendessen ging sie nicht mehr in den Gemeinschaftsraum. Da lag sie im Bett, zugedeckt bis unters Kinn und wartete auf ihren Ehemann, den sie nie hatte. Traurig. Nein. Eigentlich nicht. Sie wollte keinen, wie sie versicherte. Und sich damit selbst belog. Alleinsein wollte sie nie. Auch das Zusammensein mit anderen wollte sie nicht. Im Heim sein wollte sie nicht. Es gefiel ihr nicht. Ich erkannte es an jeder ihrer Handlungen. An jedem Satz. Jedes Wort drückte ihre Wut aus, hier sein zu müssen.
Frau Bernadette, wie ich sie nennen durfte, war, wenn sie gut aufgelegt war, sehr eloquent und man merkte nicht, wie dement die gute Dame eigentlich war. Dabei vergaß sie sogar ihren Namen. Traurig? Nur manchmal, wenn sie verzweifelt nach der Erinnerung suchte.
Sie war dann mal im Krankenhaus. Auf der Psychiatrie. Sie war ja nicht nur dement, sondern auch schizophren. Traurig? Nicht wirklich, manchmal sogar ein Segen. Dann wusste sie nicht, dass sie einsam ist und keine Angehörigen hat.
Na, Frau Bernadette kam vom Krankenhaus zurück. Neue Medikamente. Noch mehr Desorientierung. Kein Name. Keine Vergangenheit. Was ist bitteschön Zukunft in einem Pflegeheim? Vorhof zum Friedhof.
Ich hatte Nachtdienst als Frau Bernadette zurück kam und sie schien zuerst auch sehr ruhig und angepasst. Wie immer? Nicht ganz. Sie lag zwar im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, eine Tasse Tee auf dem Nachttisch und die kleine Leselampe an, damit sie den Weg zur Toilette finden konnte. Also, erste Runde ruhig. Frau Bernadette schlief. Hoffentlich. Bevor ich zur zweiten Runde kam, begann der Lärm. Es war unerträglich und ich konnte zuerst nicht herausfinden, woher der Krach kam. Das Telefon läutete. Anrainer beschwerten sich, weil jemand auf dem Balkon herumschrie. Als ob ich das nicht selbst schon mitbekommen hätte? Bedankte mich trotzdem und sauste durchs Haus. Es konnte nur vom ersten oder zweiten Stockwerk gekommen sein. Jedes Zimmer suchte ich ab. Bei Frau Bernadette war abgeschlossen. Abgeschlossen? Eingesperrt? Frau Bernadette! Sie brüllte sich die Seele aus dem Leib. Die Russen, die Russen!
Krampfhaft überlegte ich, wie ich das Zimmer stürmen konnte. Idee! Wenn man das mit den Lämpchen bei Zeichentrickfilmen sieht, findet man das lächerlich, aber es gibt diesen Geistesblitz. Der fährt ein, wie eine Bombe und hebt einen von den Füßen. So wie Frau Bernadettes Schreie. Die gingen durch Mark und Bein. Herzerweichend. Amalgamplombenziehend. Arm.
Ich drang in das Nebenzimmer ein, entschuldigte mich nicht und marschierte stracks auf den Balkon hinaus. Dort kletterte ich dann in James Bond Manier auf den Nachbarbalkon. Ich habe Höhenangst. Es war der zweite Stock. Es war Nacht. Frau Bernadette schrie immerzu ihre Warnung vor den Russen raus. Ich nahm sie in den Arm. Sie zitterte. Ich auch.
Langsam brachte ich sie ins Zimmer zurück. Toilette. Trinken. Bett. Weinen.
Frau Bernadette weinte und weinte und weinte.
Dann verstand ich, und ich begann und beendete jede Runde in ihrem Zimmer, hielt ihre Hand, bis sie sich nicht mehr fürchtete. Nicht mehr? Das wäre gelogen. Sie hatte Angst. Immerzu. Sie fürchtete sich vor allem und am meisten davor, sich aufzulösen.
Frau Bernadette hatte sich aufgelöst, in sich selbst verloren erkannte sie die Wirklichkeit nicht wieder und ertrank in den Scherben ihres Lebens. Vergessen? Nicht ganz. Ein Teil von ihr wird in der Erinnerung der Schwester weiterleben, die ihr die Russen vom Hals gehalten hatte. Es war ihre Schwester, die sie schützen wollte. Nun sind sie beide tot.
Es gibt aber auch andere Dienste. Nicht minder tragisch, aber doch zum Lachen. Mit Ingrimm. Mit verzerrtem Gesicht. Die Faust im Gesicht. Manchmal trifft es. Manchmal nicht. Herr Dietmar traf gut und schaffte es, meine Mimik zu Eis erstarren zu lassen. Pling. Eislady. Lass mich lecken, das wäre ein fressen für Herrn Dietmar gewesen.
Herr Dietmar, ein alter Knecht, das war er wirklich und stolz darauf, warum auch nicht, war immer ein Weiberheld gewesen. Warum weiß ich nicht. Er hatte so seine Macken. Grapschen. Abbusseln. Witze reißen. Erwähnte ich grapschen bereits? Ach ja, das tat er einfach besonders gern. Und sich morgens beim Duschen einen runterholen. Tragisch? Nicht wirklich. Warum sollte er das nicht machen? Ich hab ihm seine paar Minuten Privatsphäre immer gelassen. Warum? Weil es mich nichts angeht, wenn er sich selbst befriedigt. Nachts ging’s ja nicht, da hatte er ja seine Inkontinenzversorgung an, zu Deutsch, Erwachsenenwindel.
Diese morgendliche Eigenversorgung des Herrn Dietmar sorgte im Team für so manche Aufregung. Warum? Weil die Leute mit dem Sex von anderen nicht umgehen können. Und überhaupt – was braucht ein 70jähriger alter Dackel, der seine Blase nicht mehr unter Kontrolle hat, noch Gefühle? Dazu äußere ich mich jetzt nicht, denn ich habe dazu eine entschiedene Meinung. Der Sex anderer Leute geht mich nichts an. Punkt. Punkt! Ja, ist so.
Herr Dietmar war mir sehr zugetan. Leider. Nicht immer, manchmal war es auch lustig. Er konnte gut Witze erzählen und über sich selbst lachen.
Eines Abends, der Tag war lang, die Schwester, also ich, müde. Herr Dietmar auch. Vor dem Bett noch Abendessen. Er schaffte es gerade so, seinen Brei – warum gibt es in Pflegeheimen kein ordentliches Essen – hinunter zu würgen, danach schleppte ich ihn in sein Zimmer, das er mit Herrn Werner teilte. Ein unauffälliger Mann, der sich köstlich über die Witze amüsierte, die Herr Dietmar auch spätnachts oft riss.
Mühsam war es, denn er wollte sich den Schlafanzug nicht anziehen. Nein. Nein. Nein. Keine Windel. Windel oben. Kein Schlafanzug. Nein. Nein. Nein. Schlafanzug angezogen. Er half allerdings tatkräftig mit und zog sich eigentlich selbstständig um. Was er tat und was er sagte, waren zwei paar Schuhe. Dann lag er im Bett, strahlte wie ein Apfel, denn er hatte sehr rote Wangen und sagte im breiten Dialekt, grinsend wie ein pausbackiger Engel: I mächt die figgn.
Herr Werner fiel aus dem Bett. Wenn die Aussage, jemand zerkugelt sich vor lachen zutrifft, dann hatte Herr Werner das Bild dazu geliefert. Der kugelte am Boden. Brüllte vor Lachen bis ihm die Tränen kamen.
Mein Gesicht fiel zu Boden und lachte mich aus, weil ich starrte. Aus der Vereisung halt mir ungewollt Herr Werner. Ebenso im breiten Dialekt: Du oida Depp, des geht jo ned, waunst du an Windl obm host.
Ich ging.
Ich zerkugelte mich.
Und machte Feierabend.
(c) Herta 11/2011 ... aber schon vorher begonnen und wird gegebenenfalls fortgesetzt - es gibt noch viele Leute, die ich betreut habe und die ihre Schrullen hatten. Die Namen wurden geändert.