Keltenzauber
Die Frau lief zum ersten Mal diese Strecke, eher ziellos und planlos. Sie war dabei tief in ihre düsteren Gedanken versunken und nahm nur allmählich ihre Umgebung bewusst wahr.
Es war ein klarer, sonniger, jedoch noch ein wenig kühler Tag Anfang April. Der leichte Hauch einer sauerstoffreichen Brise strömte ihr entgegen.
Von Ferne konnte sie das
Geläut der Dorfkircheglocke vernehmen, die das nahende Wochenende einläutete.
Von der Hauptstraße rannte sie weiter in Richtung Waldrand.
Der Mischwald erstreckte sich vor ihr in dichter Pracht, obwohl die Laubbäume um diese Jahreszeit bislang nur spärliche Knospen austrieben.
Der folgende Streckenabschnitt führte sie auf einem geteerten Feldweg entlang karger, noch winterlich anmutender Wiesen und Getreideacker in zartem Grün.
Dann trabte die üppige
Blondine locker auf dem weichen Untergrund des Waldweges weiter.
Ihre strammen Beine steckten in engen Laufhosen, das Lauftraining sollte ihre
Durchblutung optimal in Gang bringen und ihren Kopf befreien.
Nach zwei Kilometern bog sie in einen Seitenpfad, an dem ein Hinweisschild stand, das auf diverse Fundstücke aus keltischer Zeit hinwies, zum Teil ungewissen,
sagenhaften Ursprungs.
Diese waren beim Bau der nahe gelegenen Autobahn ausgegraben und unweit der Fundstelle in der vermuteten ursprünglichen Form und Lage aufgebaut worden.
An jedem der Monumente machte sie kurz Halt, las die Hinweisschilder und tippelte dabei auf der Stelle weiter.
An der nächsten Markierung im entlegensten Teil der Strecke umrundete sie zunächst einen Wall, der von zwei Steinkreisen aus brüchigen, sehr unterschiedlich großen Sandsteinblöcken eingefasst war.
Dabei blickte sie sich nach allen Seiten um und stieg dann über den äußeren Steinkreis, kniete sich in das frisch sprießende, saftig grüne Gras. Sie stützte sich auf beide Hände, um einige Liegestütze zu machen.
Ihre Handflächen begannen leicht zu kribbeln und ihr wurde ein wenig schwindelig.
Sie führte das zunächst darauf zurück, dass sie diesen Teil ihrer Strecke ein wenig zu forsch zurückgelegt hatte. Sie spürte, wie sich das seltsame Gefühl in ihren Händen verstärkte und diese eine Verbindung mit dem Boden einzugehen schienen.
Erschreckt sprang sie auf und verließ den Kreis.
Als sie nun den Inhalt der Informationstafel überflog, gruselte es sie ein wenig: Wissenschaftler schrieben den Hügel und die Steinkreise dem Grab zweiter keltischer Frauen zu.
Zudem war der Fund einer geheimnisvollen Fibel beschrieben, einer Gewandklammer in Form einer Libelle. Diese wurde als Ursprung für ein in dieser ländlichen Gegend häufig Erwähnung findendes, vogelähnliche
Fabelwesen in Erwägung gezogen.
Stammte sie ursprünglich aus dem Besitz dieser beiden Frauen?
Wie die beiden wohl zu Tode gekommen waren? Natürliches Ableben, Ritualmord, Hinrichtung? War die Fibel eine Grabbeigabe gewesen? Dies würde auf immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben.
Diese mystischen Einblicke veranlassten die Frau, nun noch ein wenig schneller den weich gespolsterten Waldpfad entlang zu hetzen. Zu allem Überfluss vernahm sie nun auch noch ein Rascheln im Gehölz und
grunzende Geräusche.
„Vermutlich Wildschweine.“ Sprach sie halblaut vor sich hin, um sich selbst Ruhe einzuflößen. Insgeheim fürchtete sie die Tiere weniger, als die Verfolgung durch die Seelen der toten Keltenfrauen.
Sie war froh, als sie hinter dem nächsten Hügel den Kirchturm auftauchen sah, lief nun ein wenig gemächlicher ein Stück entlang der
Gleise bis sie auf die Hauptstraße zurück gelangte.
Gleich war sie am Ziel. Auf dem letzten Stück gab die offene Landschaft den Blick auf einen wolkenlosen Horizont frei.
Obwohl es noch taghell war, stand bereits eine Sichel des zunehmenden Mondes über dem ausgedehnten Waldgebiet. Ein seltsamer Schauer überlief ihren Rücken „Wie kann es angehen, dass mich heute dieser Halb_
mond_än_gstigt?"