DER MANN MIT DER GOLDENEN SCHRAUBE
Es war einmal ein Mann, der hatte dort, wo andere ihren Bauchnabel haben, eine goldene Schraube. Die Schraube war schon immer da gewesen, solange er sich erinnern konnte. Eines Tages, als er sich im Spiegel betrachtete, fragte er sich, was wohl passieren würde, wenn er sie herausdrehte.Aber, warum fragte er sich das? Warum zog er in Zweifel, was immer schon so gewesen war? Er hatte sich ja auch nicht gefragt, warum er zwei Nasenlöcher hatte, obwohl es doch auch mit einem getan wäre.
Aber dieser Frage, die sich schon seit einiger Zeit immer wieder an der Peripherie seines Unterbewußtseins herumgetrieben hatte, ohne aber aus der Deckung zu kommen, wollte er jetzt, da sie sich schonungslos aufdrängte, nicht ausweichen.
Er starrte auf die Sechskantkrone, die er, wie ihm geheißen worden war, immer mit besonderer Sorgfalt in seine Körperpflege einbezogen hatte. Jetzt schalt er sich mit einem Kopfschütteln, dass er der Sache nicht schon früher auf den Grund gegangen war.
Er besorgte sich einen siebzehner Ringschlüssel, nachdem der Versuch die Schraube mit einer gewöhnlichen Flachzange zu bewegen, kläglich gescheitert war.
Doch schon in dem Augenblick, in dem er den Schlüssel ansetzte, und er das unmittelbare Gefühl bekam, Macht über die Schraube zu erlangen, beschlichen ihn unerwartete Zweifel.
Würde es schmerzhaft sein, wie wenn man sich bei einer Maniküre das Nagelbett verletzt? Oder gar wie Ohrenschmerzen, die einen schier in den Wahnsinnntreiben konnten? Würde die Schraube sich auch wieder hineindrehen lassen, wenn, so wie er es optimistisch unterstellte, rein gar nichts passieren würde. Einmal abgeschnittene Haare konnte man auch nicht wieder ankleben. Würde das Herausdrehen der Schraube auch unumkehrbar sein?
Er seufzte. Ein sanfter Druck auf den Ringschlüssel bewirkte nichts. Sie saß fest. Er versuchte es mit mehr Kraft. Ohne Erfolg.
Oder war es ein Fake? Ein Schmuckelement ohne tatsächliche Funktion? Eine Täuschung, die von anderen wesentlich wichtigeren Umständen ablenken sollte? Warum war sie dann golden, ein eindeutiger Hinweis auf das Außergewöhnliche? Er konnte sich nicht erinnern ein solches körperliches Merkmal jemals bei einem anderen Menschen gesehen zu haben. War er zu etwas auserkoren, das sich ihm noch nicht erschloss?
Er schaute sich im Spiegel direkt in die Augen. Da war etwas Wahrhaftiges. Er sah keine Hintergedanken, nur den aufrichtigen Wunsch nach Klarheit. Er wollte verstehen, egal was die Konsequenz sein würde.
Er erhöhte den Druck noch einmal. Wieder geschah nichts. Vielleicht sollte er sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass es offensichtlich doch unabänderliche Umstände im Leben jedes Menschen gibt, die unangetastet beleiben sollten.
Er schüttelete den Kopf. Er war soweit gekommen sich zu überwinden, jetzt wollte er sich nicht damit zufrieden geben, dass die Schraube gottgegeben sein sollte. Sie war eine Anormalie, ein exotisches Beiwerk, eine Fehlstelle, ein Attribut, das genau dort, wo sie war, nicht hingehörte. Und das machte ihn zornig...
Hatte sich das Ding gerade bewegt, als sein ganzer Frust ein Drehmoment erzeugen konnte, zu dem sonst nur Androiden fähig seinn würden?
Er versuchte es erneut, diesmal mit einem Zornesschrei, der ihn selbst zusammenzucken ließ.
Sie hatte sich tatsächlich gelöst und ließ sich jetzt bewegen wie ein gut geschmiertes Lager. Er konnte sie sogar mit zwei bloßen Fingern drehen. Euphorie machte sich breit. Er hatte gewust, dass es möglich sein würde. Probleme waren dazu da beseitigt zu werden. Jetzt war der Augenblick der Erkenntnis nur noch wenige Umdehungen entfernt.
Zu seiner Verwunderung schien die Schraube aber wesentlich länger zu sein als vermutet. Mit jeder Umdrehung schwand seine Euphorie wieder. Konnte das sein? Hätte sie dann nicht auch auf seinem Rücken herausschauen müssen? Was war der Sinn einer solchen Konstruktion? Würde er nur noch gebeugt gehen können, weil die Schraube sein Rückgrad unter Spannung hielt?
Oder war sie nutzlos wie Weißheitszähne oder der Blinddarm? Würde er schielen, wenn die Hauptfunktion der Schraube die Korrelation der Augäpfel zur Aufgabe hatte?
Gedankenverloren drehte er die goldene Spindel und nahm kaum wahr, dass der Drehwiderstand unmerklich abnahm. Gleich würde er sie in Händen halten.
Dann war er da, der Augenblick des Triumphs. Der unendlich kurze Augenblick im Leben, an den wir uns oft als den Zenit unseres Daseins erinnern, wenn wir ihn denn wahrgenommen haben. Der Augenblick der Einzigartigkeit, von dem wir noch Jahre danach zehren können. Die Erinnerung daran, dass wir über uns hinaus gewachsen sind, das schier Unmögliche geschafft zu haben, gewollt oder ungewollt, es war der Gipfel des Erreichbaren.
Er sah im Spiegel das Strahlen in seinen Augen, als er die goldene Schraube wie eine Trophähe in der geballten Faust vor sich hielt. Das Gefühl unendlichen Glücks durchflutete ihn. Nichts ist erfüllender als ein selbst gesetztes Ziel zu übertreffen.
Seine Zweifel, seine Unsicherheit, seine Mutlosigkeit und sein Pessimismus waren für die Dauer eines Lidschlags, die sich anfühlte, wie eine seeligmachende Ewigkeit, hinweggefegt.
Dann, noch fassungslos von seinem Glück, fiel ihm der Arsch ab.
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Epilog:
Niedergeschrieben auf meinem iPad, am 14.11.2011, auf der Insel Sylt, bei einer Portion Schoko-Mousse und einem Glas Portwein.
Inspiriert wurde die Geschichte durch einen Witz, der, so wie er mir schon vor etlichen Jahren erzählt wurde, sinngemäß aus dem ersten Absatz und dem letzten Satz bestand.
Weiterhin hat mich eine Passage aus Umberto Eco's ’Das Focaultsche Pendel' tief beeindruckt, das seither zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Als ich sie las, wurde mir bewußt, das mir das Privileg des Augenblicks höchsten Glücks bereits zuteil geworden war. Ohne dieses Buch wäre er mir wahrscheinlich entgangen.
Eco's Buch ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum ich, der Deutsch in der Schule gehasst und in der Oberstufe abgewählt hat (damals ging das noch), dazu kam, zu schreiben. Ich beherrsche dieses Handwerk nicht, das gebe ich unumwunden zu. Die Worte entstehen im Kopf und im Herzen. Dort gibt es keine Interpunktion und keine Grammatik.
Ich schreibe so, wie Sean Connery, alias Schriftsteller William Forrester, es in 'Forrester-gefunden' beschreibt:
»Hau in die Tasten, Junge! Du schreibst, während Du schreibst. Die Worte fließen dann einfach aus Dir heraus«
Auch das ist ein Stück unendlichen Glücks.
KWR