Der Ochsenkarren
© Nisham 11/2011Fortsetzung von: „Die Grube“, „Der Dolch“, „Das Feuer“, „Die Unruhe“, „Die Verfolgung“, „Das Tier“, „Die Heilung“ und „Die Entscheidung“
Kurzgeschichten: Die Entscheidung
Von weitem sehe ich schon den Karren, wie er unbeweglich in der Landschaft steht. Vier müde Ochsen, ein voll beladener zweirädriger Wagen, daneben ein Mann, der sichtlich verärgert da steht. Ich nähere mich, gut sichtbar. Als der Mann mich erblickt greift er in den Karren und nimmt ein Gewehr in die Hand, das er auf mich richtet. Um zu zeigen, dass ich friedlich bin, hebe ich meine rechte Hand, den Speer halte ich mit der Spitze nach unten in der Linken. Als ich noch einige Schritte von ihm entfernt bin blafft er mich an und fordert mich auf, stehen zu bleiben. Ich antworte ihm in seiner Sprache, was ihn sichtlich überrascht.
Ja, ich weiß, ich bin nackt, meine Haut ist tief braun gefärbt und ledrig. Mein Haar schlohweiß und lang. Doch ich habe nicht die Gesichtszüge der Eingeborenen. Das erkennt der Mann, langsam zwar, doch er senkt sein Gewehr. Ich lege meinen Speer nieder und frage, ob ich ihm helfen kann.
Sein Wagen hat sich mit dem einen Rad zwischen zwei kantigen Steinen verklemmt. Gemeinsam laden wir Säcke und Fässer ab. Dabei erzähle ich ihm ein wenig von meiner Geschichte, von meinem Woher.
Immer wieder schaut er mich von Kopf bis Fuß an, schüttelt den Kopf und wiederholt, dass so was doch nicht sein kann. Wir schaffen es den Karren frei zu bekommen. Als wir mit dem Beladen fertig sind fordert er mich auf mitzugehen.
Er hat hier in der Gegend eine Schaffarm, weitab von allen anderen Siedlern. Mit den Eingeborenen hat er nur wenig Kontakt. Er war im nächstgelegenen kleinen Ort, drei Tagesreisen weg, mit dem Ochsenkarren. Auf seiner abgelegenen Farm lebt er seit Jahren mit seiner Frau, seinen beiden Söhnen und seiner Tochter. Die Söhne sind derzeit unterwegs und treiben eine Herde Schafe in die nächste größere Stadt.
Auf dem Weg zur Farm erzähle ich ihm mehr von meiner Geschichte; von Mag und mir, wie wir hier in diesem Land angekommen sind – als Schiffsbrüchige und wie die Eingeborenen uns, das heißt mir, das Leben gerettet haben. Und wie wir mit ihnen gegangen sind und so viele Jahre mit ihnen gelebt haben, immer in diesem unendlich weiten Land unterwegs…
Und ich erzähle ihm von den neuesten Ereignissen. Wie Murrul und ich an einer heiligen Stätte einige Rituale durchgeführt haben. Doch als wir zum Lager zurückkehrten war alles so – mir fehlen die richtigen Worte. Schrecklich. Ein Massaker. Männer, Frauen, Kinder: alle umgebracht.
In den Spuren haben wir gelesen, dass eine Gruppe Reiter das Lager gefunden haben muss, sich zuerst wohl friedlich genähert hatten, um das Gemetzel anzufangen. Sie müssen urplötzlich auf alle geschossen haben, die Fliehenden zu Pferd eingeholt und erschlagen… Ich fand Mag hinter einem Busch, von mehreren Kugeln getroffen. Blutüberströmt. Ihre Wurfaxt fand ich in einiger Entfernung, voller Blut. Ein schwacher Trost, dass sie einen der Angreifer getroffen haben musste.
Mit Murrul habe ich unsere große Familie beerdigt - so gut wir konnten. Auch alle Spuren verwischt. Murrul ist danach aufgebrochen, er wollte nicht mit mir gehen. Das war auch richitg so, wir brauchten für unserer Trauer dieses Alleine sein – für eine gewisse Zeit zumindest.
Ein langer, einsamer Weg, so voller Trauer und Traurigkeit hat mich zu unserer ältesten Tochter geführt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in einer anderen Gruppe. Ich habe ihr erzählt, was geschehen ist. Alle wollten mich zurückhalten, doch ich brauche im Augenblick Zeit und wandere mehr oder weniger planlos durch die Gegend – weil nichts mehr einen Sinn macht. Ich bin ein alter Mann und dieses Land ist mein Zuhause; wenn ich Menschen brauche – die Eingeborenen kennen mich und ich sie. Wir verstehen uns. Die jüngere Tochter und unsere beiden Söhne werde ich aufsuchen, wenn ich in der Einsamkeit meine tiefe Trauer gelebt habe. Mag fehlt mir – ich kann das gar nicht beschreiben…
Sean – so heißt der Schafzüchter, ist erschüttert. Doch er stellt keine Fragen. Es ist nicht das erste mal, dass er von einem derartigen Massaker hört. Als ich nicht mehr weiter reden kann, erzählt er mir, dass seine Tochter immer noch bei ihnen lebt, weil sie keinen Mann gefunden hat. Seit einem Unfall in ihrer Kindheit auf der Farm hat sie ein verkrüppeltes Bein und kann nur sehr beschwerlich gehen und auch sonst nicht viel helfen.
Sie liest und schreibt Briefe für die Farmer aus der Umgebung, die des Schreibens nicht mächtig sind. Sie hat nicht viel zu tun, viel Zeit…
Es ist Abend geworden als wir auf der Farm ankommen. Sean dirigiert sein Ochsengespann hinter die Scheune, die etwas abseits vom Wohnhaus liegt. Er bittet mich da zu warten, denn er muss mir etwas zum Anziehen besorgen. Ich könne nicht in meiner Nacktheit vor seine Frau und Tochter treten, meint er. Kleider! Ich habe so was schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getragen. Es machte einfach keinen Sinn mehr. Nun fühlt sich das grobe Leinen auf meiner Haut sehr ungewohnt an. Sean muss wohl seiner Frau und Tochter von mir erzählt haben. Sie begrüßen mich zurückhaltend und beäugen mich ausgiebig.
Zum Essen sitzen wir unter dem Vordach an einem Tisch auf Bänken. Nach kurzer Zeit muss ich aufstehen und mich auf den Boden setzen. Ich bin es nicht mehr gewohnt auf einer Bank oder einem Stuhl zu sitzen. Es gibt reichlich zu essen; Schaffleisch mit grobem Brot. Auch das für mich ungewohnt. Elisabeth, die Frau von Sean, spricht nicht viel und verschwindet alsbald wieder im Haus, während Siobhan, die Tochter, neugierig dasitzt und mir immer wieder Fragen stellt über das Leben da draußen im weiten Land. Ich erzähle ein wenig. Bruchstückhaft. Sean schüttelt immer wieder den Kopf, so unglaublich klingt das alles für ihn. Doch er ist es schließlich, der den Vorschlag macht, dass Siobhan meine Geschichte aufschreiben soll, wenn ich nichts dagegen hätte und ein paar Tage hier bleiben würde.
Ich schlafe unter den Bäumen und lehne das mir angebotene Bett ab. Ich in einem Bett schlafen? Ich hatte noch nie ein richtiges Bett – irgendwann vor ganz langer Zeit ein Strohlager in einer Hütte in einem fernen Land… Und eine Weile habe ich in einer Hängematte geschlafen, doch an diese Verbindung von meinem Körper mit der Erde – daran habe ich mich so gewöhnt…
Siobhans Vater hat ihr einen Tisch und einen Stuhl unter die Schattenspendenden Bäume gestellt. Sie setzt sich hin und schaut mich lange an, die Feder in der Hand, ein Stapel leerer Blätter Papier vor sich. Mit einem langen Blick fordert sie mich auf zu erzählen…