Erlösung
Der Aufzug stockt, quält sich noch einige quietschende Momente weiter um dann entgültig zum Stehen zu kommen.Der alten Dame gegenüber, die sich an ihrem Rollator festhält, huscht ein Lächeln über das Gesicht, nachdem ich selbst ein erschrockenes „Oh, Gott!“ flüstere.
„Das passiert hier immer wieder.“ erklärte sie mit hoher, fast klirrender Stimme.
Ein unerwarteter Ruck lässt mich einen kleinen spitzen Schrei ausstoßen. „Nicht sehr beruhigend!“ höre ich mich verlegen lachend sagen und drücke den Notknopf noch einmal. Der leichte Anflug von Panik weicht.
Die Worte der alten Dame kommen zurück in mein Gedächtnis. „Waren sie schon mal im Aufzug hier eingesperrt?“
„Ja, aber keine Sorge, normalerweise dauert es nie länger wie 10 Minuten bis jemand kommt.“
Ich hätte die Treppe nehmen sollen.
Irgendwann fährt der Aufzug weiter, die Türe öffnet sich. Wir gehen auseinander als sei nichts geschehen.
Ich gehe den Flur entlang bis zu der Türe, an der ich jede Woche mehrmals leise die Klinke niederdrücke und das Zimmer der Qualen betrete. Mein Blick fällt suchend auf das Bett. Der typische Geruch „alter“ Menschen hat mich längst wieder umhüllt. Ich weiß was mich erwartet.
Faltige, lederartige Haut. Sanfte Berührung. Ich bin ihr nahe. Zaghaft öffnet der wichtigste Mensch aus meinem Kindertagen, die glanzlosen Augen. Müde Lider in tiefen, fast schwarzen Höhlen, flatternder Blick.
Erkennen. Zaghaftes Lächeln.
Ich nehme sanft die abgemagerte Hand, der einst so stolzen, unbeugsamen, kämpferischen Frau. Streichle sie zärtlich. Suche ihren Blick. Er geht ins Leere, sieht wie durch mich hindurch. Sie ist ganz weit weg. Erinnerungen an ferne Tage. Oft hat mich diese Hand gehalten, geführt, gelenkt, beschützt.
Dann schaut sie mich doch an. Glitzern tritt in ihre Augen. Ihr schmaler Mund formt mühevoll Worte. Flüstern. Ich beuge mich über die trockenen Lippen. „Hilf mir!“
Mehr muss sie nicht sagen. Es genügt um mich erneut in einen Zustand der Verzweiflung zu versetzen. So oft hat sie mich darum gebeten! So oft habe ich Nein sagen müssen!
Aufkommende Tränen lassen meinen Blick auf ihren ausgemergelten Körper verschwimmen. Haut und Knochen. Bilder die mich verfolgen, die ich nicht mehr ausblenden kann, die mich in meinen Träumen heimsuchen.
„Hilf mir!“
Tränen fallen auf die kleine Hand in meiner. „Ich kann nicht!“ bringe ich schließlich heraus. „Wie soll ich damit weiterleben?“
Ihre Tränen, Ihr Wimmern. Unendliches Leid.
Schweigend sitze ich an ihrem Bett, verzweifelt und hilflos ihre Hand streichelnd.
Eine Pflegerin kommt herein, stellt einen Tablett auf den Tisch. Sie sagt nichts. Es ist sinnlos. Sie wird es später genauso wieder mitnehmen. Die Entscheidung ist gefallen.
Viele Stunden später verlasse ich das Zimmer, nehme diesmal die Treppe.
„Wenn es dich gibt, lass sie endlich gehen!“ Worte in meinem Kopf, unablässig, bei jedem Schritt.
Im Parkhaus, im Auto breche ich zusammen, weine, schluchze, wimmere bis ich so müde bin, das ich kurzzeitig vor Erschöpfung einschlafe. Schaffe es irgendwie nach Hause. Niemand wagt zu fragen, warum ich so lange weg war.
Schönheit ummantelt über Nacht Bäume, Gräser und Gartenzäune. Zentimeterdicke Schichten glasklares Eis, blendendes Funkeln überall.
Ich stelle eine Kerze auf.
Beleuchtete Zahlen des Zeitpunkts der Erlösung.
Der Weg zurück ist weit. Knirschendes Eis unter meinen Schuhen. Gebrochene Äste. Machtlose Bäume. Lasten die zu tragen die Kraft fehlt. Bergkristallähnlich zerborstenes Eis auf Wegen und Hügeln.
Großmutter starb an einem sonnigen Tag im Mai.