Positiv
*Beiläufig, greife ich nach dem langen Glasstiel der Champagnerflöte. Mein Blick bleibt auf die Menschenmasse geheftet, die sich exstatisch zur Musik bewegt. Ein komplexes Geflecht aus sich windenden, ringenden Körpern.
Sie wälzen und wabern über den Klangteppich der sich aus Bass und Beat zusammenwebt.
Ich stehe hier oben auf der Empore. Abseits, im Dunkeln und nippe am Champagner.
Eigentlich mag ich den gar nicht, aber heute zelebriere ich Etwas. Und dieses Etwas muss unbedingt mit Schampus begossen werden. Achtlos streift meine Zungenspitze einen Tropfen von meiner Oberlippe. Er schmeckt ein wenig herb und süß zugleich.
Die Lider meiner Augen sind halb geschlossen, das Kinn leicht angehoben.
So throne ich hoch oben und blicke in den Abgrund.
Einen Moment verharre ich noch.
Dann straffe ich meine Schultern, stelle das Glas ab und begebe mich wiegenden Schrittes in Richtung Tanzfläche. Ich steige bedächtig Stufe für Stufe herab, schlängle mich durch verschwitzte Körper. Zart berühren meine Fingerspitzen Schultern, oder Taillen, um ihnen zu bedeuten mir ein wenig Platz zu schaffen, so dass ich an Ihnen vorbei schlüpfen kann. Geschmeidig. Ich lächle leise. Mein Blick verliert sich im Nirgendwo.
Als ich an der Tanzfläche ankomme wechselt gerade die Musikrichtung: Wo eben noch harte Bässe wummerten, quellen jetzt betörende, zarte Rhythmen aus den Poren der Boxen und Fluten die Fläche der Tanzenden. Ich gleite dort hinein. Ganz tief dringe ich ein in diesen kollektiven Rhythmus und sauge ihn auf.
Für einen Augenblick verharre ich ganz Still. Eine angespannte Stille. Ich schließe meine Augen und horche in mich hinein.
Dann beginne ich zu tanzen.
Ich spüre die Blicke auf mir.
Ich weiß, dass ich schön bin. Begehrenswert.
Ich weiß, dass man sich nach mir verzehrt.
Ich weiß das und es ist mir egal.
Es ist Nichts mehr Wert, gemessen an dem Was ist.
Früher einmal strahlte und funkelte ich vor glückseliger Oberflächlichkeit. Heute ist es mehr ein zartes Glimmen. Ein Hauch, der noch einmal Alles zum Glühen bringt und mich das wirklich tiefe, stille Glück erahnen lässt.
Ich bin also hier und verliere mich in diesem Moment.
Blicke berühren mich, streifen und streicheln mich. Wollen mich.
Das spüre ich.
Vor fünfzehn Jahren spürte ich das nicht.
Vor fünfzehn Jahren spürte ich nur die große Unsicherheit.
Ich bewegte mich schlaksig und ein wenig ungelenk. Ich hatte meinen langen Arme und Beine noch nicht recht unter Kontrolle. Die Schultern stets ein wenig nach vorne eingerollt, den Kopf leicht geneigt, so dass die Ponysträhnen ins Gesicht fielen und es großflächig verdeckten.
Damals tanzte ich fast jedes Wochenende im „Infinity“, der suggerierten Unendlichkeit, bestehend aus hartem, blechernem Techno-Beat.
Keine Weichheit, keine Sinnlichkeit.
Ich trank viel.
Ich rauchte viel.
Ich schluckte viel.
Ich fickte viel.
Ich wusste nicht wer ich war, hatte keinerlei Gespür für mich.
Mein Leben war ein wilder Exzess.
Eines Tages wachte ich auf.
In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Mein Blick wanderte rastlos durch den fremden Raum, bis er am Kronleuchter an der Zimmerdecke hängen blieb.
Ich betrachtete Meine Halsketten, die sich dort oben verfangen hatten.
Ich wusste nicht wie er ausgesehen hatte und auch nicht wie er hieß.
Ich wusste rein gar nichts von ihm.
Er war nicht mehr da. Auf dem Zettel am Boden stand was von Brötchen holen.
Ich beeilte mich meine sieben Sachen zusammen zu raffen.
Die Ketten versuchte ich vergeblich zu befreien. Achselzuckend ließ ich sie, ohne Bedauern zurück.
Damals wollte ich keine Brötchen.
Ich wollte keinen Anfang von irgendwas.
Ich hatte Angst.
Heute habe ich auch Angst.
Aber ich habe gelernt, dass ich einfach immer nur in das Auge des Wirbelsturms vordringen muss. Dort herrscht Stille. Dort kann ich Atem holen.
Ich habe gelernt, dass ich mich im Strudel des Lebens verlieren muss, dass ich dort hinabtauche, bis auf den Grund.
Ich habe gelernt unter Wasser zu atmen.
Heute tanze ich.
Ich tanze mein Leben.
Mein Sein.
Vor fünfzehn Jahren fiel der Test Positiv aus.
Seit heute Morgen um 08.17 Uhr weiß ich, dass der HI-Virus in mir ausgebrochen ist.
Ich zelebriere hier und heute meinen Anfang vom Ende.
Achtlos streift meine Zungenspitze einen Tropfen von meiner Oberlippe.
Er schmeckt salzig.