Betriebsweihnachtsfeier
Sie hatte eigentlich schon im Oktober, als das erste Mal davon geredet wurde, keine Lust darauf. Außer vielleicht, weil es Spaß machte, endlich mal wieder ein bisschen tanzen zu können. Das Gerede über einheitlichen Kleidungsstil zu Ehren der dieses Jahr verabschiedeten Geschäftsführerin, die aus Bayern stammte, ging ihr erst recht auf den Keks.Ob sie ein Dirndl besäße? Nein. Ob sie eins mit den anderen kaufen wolle? Nein. Vielleicht ausleihen? Nein. Na gut, ist ja kein Zwang.
An dem Abend waren dann von 130 Anwesenden mehr als die Hälfte in Trachten erschienen, ein weiteres Drittel zumindest in karierten oder weißen Hemden, damit der Look zu den am Eingang verteilten blau-weiß-karierten Tüchlein passte, die den bayrischen Touch betonten. Viele der Männer sahen damit eher wie Cowboys aus. Das Holz vor der Hüttn der Damen war beeindruckend, hier und da zwar, wie auf den Toiletten von den schnell angesäuselten Dirndl-Trägerinnen ausgeplappert, mit Taschentüchern ausgestopft, aber nichtsdestotrotz von den Herren gern gesehen.
Wie immer wurde viel getrunken, gut gegessen und klatschte man beflissen bei den vorgetragenen Beweihräucherungen der Manager. Ehrengäste aus den Staaten wurden von den niederdeutschen Auszubildenden ehrfürchtig aus der Ferne angestaunt. Man stellte mal wieder fest, dass die Abteilungsleiter nicht mal die Namen all ihrer Untergebenen kannten, wenn sie zur Preisverleihung bei der Tombola nach vorne kamen, um Mp3-Player oder Handtuchwärmer abzuholen.
Dann mischte man sich unters Volk, quatschte mal hier mal da mit den selten so gehäuft anzutreffenden Außendienstlern, und tanzte nach den zuerst während des Büffets qualvoll ausgestandenen Weihnachtsliedern (natürlich nur elektronisch untermalten Instrumental-Versionen) schließlich zur üblichen, zu lauten und bassbetonten Partymusik.
Sie blieb bei Rotwein, den sie sich großzügig nachschenken ließ und betrachtete ihre Kollegen an der Theke, wo sie lächelnd dem schnauzbärtigen Lagerarbeiter mit den blond gefärbten Piekshaaren beim diskutieren mit der fülligen Lesbierin aus der Retourenabteilung zusah. Oder beobachtete den schmalzig-schicken neuen IT-Leiter, wie er sich an die jüngste Azubine ranschmiss, die, erstaunt und geschmeichelt ob der Aufmerksamkeit der Herren aufgrund ihres ungewohnt freizügigen Dirndl-Bustiers, neue Cocktail-Variationen kennenlernte.
Mit steigendem Alkoholpegel verspürte sie wieder dieses Gefühl, hier nicht her zu passen. Auch wenn sie viel lächelte, oberflächliche Konversation betrieb und sogar witzige Anekdoten einfließen ließ, konnte sie, wie immer, sich nicht einfach abgucken, wie andere Spaß hatten und es ihnen nachmachen. Als Joachim, der Gebietsleiter, ihr an der Theke einen Arm um die Schulter legte, versteifte sie, unangenehm berührt wie immer bei unerbetenen Berührungen. Er nahm ihn nur langsam wieder weg, aber er merkte, dass es besser so wäre.
Sie erklärte dem amerikanischen CEO auf seine interessierten Fragen, was es mit diesen Lederhosen auf sich hätte, wozu dieser aufknöpfbare Latz diente und machte sich bei den wie Models vor ihm posierenden Männern mit der Bemerkung etwas unbeliebt, das beste an den Dingern sei, dass man darin nicht spüre, wenn man in einer Bierlache säße.
Nach einer Weile taten ihr die Füße vom Tanzen weh, sie ging auf die Toilette, zog sich einen Stiefel aus und massierte die von zerrissenem Nylon eingeengten Zehen. Dabei schoss es ihr durch den Kopf, dass sie sich dafür schämte, sich für was Besseres zu halten. Dass sie es sich selbst nur schwer und mit Gewissensbissen eingestand, die allermeisten Anwesenden für Spießer zu halten. Die machten jeden Scheiß mit, der sie nur zu einer Gruppe gehörig fühlen ließ. Kaum einer zeigte Individualität, kaum einer gab sich wirklich mit anderen als Seinesgleichen ab, keiner sagte, was er wirklich dachte. Oder dachte einfach nicht selbstständig.
Sie hätte nicht kommen sollen. Sich dazu herabzulassen, hier mitzumachen, machte auch aus ihr eine Mitläuferin, Schöntuerin, einen weiteren, oberflächlichen, um-des-lieben-Friedens-willen mitlachenden, mitflirtenden, mittrinkenden und mitfeiernden Teil der Masse. Zu der sie sich nicht zugehörig empfand. Weil sie eine Angeberin und eine von sich selbst eingenommene, großkotzige, egoistische, eingebildete, arrogante Selbstdarstellerin war.
Oder machte das ihre katholische Erziehung? Jedenfalls hasste sie die anderen nicht. Sie hatte eher Mitleid. Und sie war zu alt, sich dafür zu schämen, sie musste endlich einfach dazu stehen.
Sie würde weiter nett sein, aber auf ihre Art. Mit dieser Erkenntnis zog sie sich den hohen Stiefel wieder an, zupfte ihren BH zurecht, der ihre Rundungen auch in dem hochgeschlossenen Kleid doch ganz nett zur Geltung brachte, und ging wieder hinaus in die wogende, stickig-laute Menge.
Sie kam an der rumänischen Lagerarbeiterin vorbei, die sie tagsüber ab und zu in der Raucherecke sah und sprach sie an:
„Du, ich wollte dir immer schon mal sagen, dass ich dich für außergewöhnlich hübsch halte. Du bist was ganz Besonderes.“
Das Mädchen lachte und meinte mit einem viel zu seltenen, strahlenden Lächeln „Sind wir nicht alle was Besonderes? Du siehst auch toll aus. Wie alt bist du?“ „44“ „Wow. Ich hoffe, in zwanzig Jahren wie du auszusehen, wirklich.“ Dann umarmten sie sich und nach einem verschwörerisch ausgetauschten, alkoholverhangenen Blick ging sie weiter. Na also.
Auf der Tanzfläche bewegte sich neben ihr eine andere junge Frau im Dirndl von einem Fuß auf den anderen, ihre Handtasche krampfhaft über eine Schulter geklemmt.
Sie sagte ihr ins Ohr „Hast du Angst, jemand könnte die Tasche mitnehmen? Das sieht ganz schön unbequem aus.“ Das junge, äußerst provinzlerisch mit blauem Lidschatten geschminkte Ding grinste verlegen, stellte die Tasche dann aber hinter sich auf den Tisch und konnte ihre tanzartigen Bewegungen etwas lockerer wieder aufnehmen.
Ein Kollege tanzte wild mit erhobenen Armen, ein Bierglas in der Hand und fasste mal hier mal da die um ihn herum hüpfenden Ladies um die Hüfte. Als er näher bei ihr war, versuchte er, seinen Arm um ihre Schultern zu legen, laut „We love Rock´n Roll“ mitgröhlend.
„Du solltest ganz schnell das Glas wegstellen, mein Lieber. Ohne das kannst du hier anfassen wen du willst, aber ich hab keine Lust, vollgespritzt in einer Pfütze weitertanzen zu müssen.“, zischte sie ihm zu.
Er zog sich schnell zurück, zu betrunken, um anders als mit sofortiger Befehlsausführung reagieren zu können, oder auch um die Einladung zu verstehen.
Langsam wurde sie müde. Sie setzte sich rauchend an einen der Tische beim Ausgang und sah sich weiter um. Ein anderer junger Kollege setzte sich kurz zu ihr und sie sprachen über die gelungenen Aufführungen und Präsentationen des offiziellen Teils. Sie spürte, dass er es mochte, von ihr nicht so herablassend behandelt zu werden, wie von anderen ihrer älteren Kollegen - wegen seiner missfällig beäugten Tattoos und lässigen Kleidung. Sie würde weiter jeden behandeln, wie er es verdient hatte.
Und sah mit eisigem Gesicht weg, nachdem der Junge verschwunden war, als der Salesmanager an der Theke mit aufforderndem, süffisantem Lächeln einladend nickend in ihre Richtung ein Glas erhob. Selbstgefälliges Schwein, dachte sie über ihn, und würde das nicht mehr verstecken.
Als einer der Verkäufer in Jacke und Schal nach einer Person suchte, die sich mit ihm das Taxi nach Hause teilen würde, machte sie von der Gelegenheit Gebrauch und holte ihren Mantel. Es gab nur eine Person, eine befreundete Kollegin, von der sie sich nur kurz noch verabschieden wollte. Dann legte sie sich mit geschlossenen Augen auf der Rückbank des Taxis lang, horchte auf seine Unterhaltung mit der Taxifahrerin und atmete tief den Ledergeruch der Sitze ein und versuchte das leichte Schwindelgefühl durch die unzählbaren geleerten Weingläser zu unterdrücken.
Es war wieder richtig schön, würde es Montagmorgen heißen.