Wolfsrudel
WolfsrudelUnd wieder waren sie auf der Jagd gewesen. Und auch dieses Mal hatten sie Erfolg gehabt. Ein letztes Mal, wie erneut alle hofften. Doch die Jahre nach der großen Katastrophe hatten sie bisher leider eines Besseren belehrt. Und obwohl sie die Richtigkeit ihres Tuns in ihrer Herzen spürten, so waren es doch jedes Mal auch Tage voller Trauer.
Im Dorf brach Jubel aus. Es war ein Jubel, den man mit dem Abstand eines Nicht-Wolf-Menschens nicht verstehen konnte. Und selbst für die meisten Mitglieder der Sippe war es jedesmal eine Gradwanderung. Doch sie vertrauten ihrem Ersten.
Die Nacht hatte inzwischen ihre 2. Stunde erreicht, als Tomasz sich endlich in seine Hütte begab. Nach der Rückkehr der Männer waren noch verschiedene Vorbereitungen für die Nacht zu treffen gewesen. Und zudem musste diesmal natürlich auch das Ritual vorbereitet werden.
Sanara, sein wundervolles Weib, das in seiner Seele lass wie in alten Büchern voller Weisheit, wartete schon sehnsüchtig auf Ihn. Sie war eine große unter den Seherinnen der Sippe. Und sie wusste, welche tiefe männliche Essenz heute Nacht wieder in ihm fließen würde. Die Geister hatten sich bisher immer wohlgesonnen gezeigt, wenn ein solcher Tag bevorstand. Für Sanara waren dies dann immer Nächte tiefster Erfüllung gewesen. Er zog sich voller Bewußtheit aus, hielt am Bett für einen Moment inne, und sah sie an. Mit einem Blick voller Liebe gebot sie ihn an ihre Seite.
Vor 6 Tagen waren sie gekommen. 8 Männer. Die ersten 4 waren schon kurz nach dem Angriff auf das Dorf tot. Ein weiterer wurde bei der anschließenden Jagd getötet. Die anderen konnten zwar zunächst fliehen. In der darauffolgenden Nacht hatten sie dann aber zwei weitere gefangen genommen. Und am nächsten Morgen das Ritual abgehalten. Und jetzt hatten sie eben den letzten auch noch erwischt. Alle wussten, dass dies ein notwendiges Übel war. Aber keiner der Männer nahm es auf die leichte Schulter.
Denn der, der sie am Meisten über das neue Leben gelehrt hatte, und ohne den es diese Sippe nicht geben würde, er war selbst einem solchen Angriff zum Opfer gefallen. Tomasz erinnerte sich genau an diese Zeit. In den Armen seines Weibes lag er, und dachte schweren Herzens an die Anfangsjahre.
Zunächst war die Welt vollkommen erstarrt. Das Leben und die Liebe schien zum Erliegen gekommen zu sein. Ein Winter tiefer menschlicher Kälte war, über die Erde sich schleierhaft legend, hereingeborchen. Der Irrsinn, welcher die Menschen in ihrer Panik überkam, sorgte damals sehr schnell dafür, dass die Bevölkerungszahlen in Europa um mehr als 70% zurückging. Nur die Kräftigstens und Abgebrühtesten schienen den Wahnsinn zu überleben.
Doch es gab auch Inseln der Liebe, der Hoffnung und des Schaffens in diesen Jahrzehnten des Zerstörens. Und Ihr verstorbender erster Führer war es gewesen, der diese Insel hier geschaffen hatte. Tomasz war inzwischen der 3 Anführer der Sippe. Obwohl er nicht den gleichen wissenden Glanz in seinen Augen hatte wie Androsz, so war er doch gereift genug, die Sippe nachhaltig zu versorgen und am Gedeihen zu halten.
Als die Sonne ihren Glanz über den tau'ernen Teppich des Grases legte, regte sich überall im Dorf das Leben. Ein großer Tag für alle stand bevor. Als die Feuer der Nacht gelöscht waren, wurde der Gefangene aus dem Zelt geholt, in dem man ihn übernachten lassen hatte.
Der Mann hatte die schiere Panik in den Augen. Er würde, wenn sie Ihn fragten, sicher alles gestehen. Ja, er würde sich wohl sogar zum kauernden Hund und Sklaven machen, wenn nur alles sofort vorüber wäre. Doch dafür war es zu spät. Einige Mitglieder der Sippe wußten und spürten es selbst. Die anderen aber vertrauten ihrem Ersten.
Und so ging ein jedes aus der Sippe, ob jung oder alt, Mann, Frau, Kind, an dem Mann vorüber. Alle schauten Ihm in die Augen und verabschiedeten sich von ihn mit einem stillen Gebet und dem Wunsch für eine wundervolle Reise.
Tomasz sah noch einmal jeden Krieger der Sippe an. Alle nickten mit wachem Blick. Es war, als würde jeder noch einmal klar und deutlich sagen: "Ja, es ist das Richtige"
Dann ging er auf den gefesselten Mann zu. Er sah Ihm tief in die Augen. Doch auch diesesmal konnte er keinen noch so kleinen Funken erkennen. Das Feuer der Menschlichkeit war zur Gänze erloschen, in diesem traurigen Wesen. Er war verloren. Er hatte die Kraft, zu schöpfen, komplett eingebüst. Nur noch Hass und Zerstörung waren es, was er leben konnte.
Doch nicht hier. Denn hier war ein Ort des Werdens, der Liebe und der Schöpfung selbst. Die Frauen hatten mit den Kinder den Platz inzwischen verlassen.
Tomasz zog sein Messer. Mit einem schnellen tiefen Schnitt überantwortete er den flehenden Mann der Ewigkeit.
"Mögest Du in einer neuen Welt die Zeichen besser deuten!", sprach eine Stimme leise in seinem Kopf, während der leblose Körper vor Ihm auf den Boden fiel.
Ein Grab wurde ausgehoben, und der gereinigte Körper wurde darin beerdigt. Jede Woche hat eine andere der Frauen, ab ihrem 14. Lebensjahr, die Aufgabe, frische Blumen an die Gräber zu bringen, und für die Toten zu beten. So war es Brauch in der Sippe.