Formen von Liebe
Jedes Mal, wenn man jemanden kennenlernt und spürt, dass sich daraus mehr entwickelt, fängt man an, sich Fragen zu stellen. Wenn die berühmten Schmetterlinge im Bauch einem jeden Hunger auf banale Dinge wie Essen, Arbeit, andere Menschen vertreiben. Wenn man merkt, dass es gegenseitig ist. Wenn man anfängt Zeit miteinander zu verbringen und merkt, dass man zusammen passt und sich wohl fühlt, fragt man sich, ob das jetzt Liebe ist. Irgendeine Form von Liebe ist es dann auch immer. Nicht immer die selbe, nicht immer gleich stark oder mit gleicher Akzeptanz erlebt, aber man erkennt etwas, dass den Gedanken „Das ist es: ich liebe“ zulässt.
Wir alle analysieren viel zu viel, was Liebe sein muss, wie sie sein sollte, wann sie den Namen verdient hat. Wir alle kennen das Gefühl, uns selbst im Weg zu stehen und nicht einfach genießen zu können, wenn das Kribbeln, das Sich-Wohlfühlen, das Schwärmen, die Vernarrtheit beharrlich bleibt und mehr als „Verliebtsein“ bedeuten muss.
Wir alle haben sie erlebt, in irgendeiner Form, die Liebe (außerhalb der Familie). Wir haben unterschiedlich gehandelt, wussten manchmal erst, dass es Liebe war, als der Auslöser bereits wieder verschwunden war oder wenn sie verging. Und wollen es beim nächsten Mal besser machen, sie sofort erkennen und darin schwelgen und sie ausleben und am Leben erhalten.
Wie oft habe ich selbst nicht mal gewusst, dass es Liebe war, was ich erlebte?
Wie war das, als ich mit sieben Jahren das erste Mal in jemanden verschossen war?
Ich brachte mein Lieblingsspielzeug mit zur Schule, nur für ihn, um ihn zu beeindrucken; ich sah zu, wie er es in seinen kleinen Händen hielt und freute mich stolz, als er es annahm. Er hatte guten Geschmack. Ich malte Bilder von ihm in mein Malbuch und fragte meine Mutter dauernd, ob er bei mir spielen kommen dürfte. Ich errötete, als er mich tröstete, nachdem ich mir die Knie aufgeschrammt hatte. Ich errötete, als ich ihm einen Kuss aufs Ohr drückte zu seinem Geburtstag. Ich errötete andauernd, allein schon, wenn jemand seinen Namen sagte. Immer, wenn ich seinen Namen hörte, dachte ich an einen Fluch, oder ein Flüstern, oder ein Gebet.
Dinge wurden nur wenig anders, als ich mit zehn Jahren einen neuen Schwarm hatte:
Mir fiel auf, dass wir die gleichen Dinge mochten: das gleiche Lied, die gleichen Tiere, die gleichen Farben. Ich fühlte, dass da etwas zwischen war, aber wir waren beide zu unerfahren, um es benennen zu können. Ich stand an seiner Seite, als die Abschlussfeier der Grundschule stattfand und fühlte, wie ernst er es meinte, als er sagte, er würde mich vermissen, so wie ich ihn. Ich trug mich in sein Freundebuch ein (damals noch Poesiealbum, das er als Junge nur heimlich bei sich trug und „Adressbuch“ nannte), und wählte dafür die schönste Seite, mit einem Bild, das mehr als Freundschaft bedeutete. Ich benutzte Mamas Lippenstift und presste meinen Mund auf meinen Namen in das Buch, zwischen den Worten „Bis bald“ und „Meine Adresse“. Dann sahen wir uns nie wieder.
Ich weiß noch gut, wie verwirrend das „lieben“ sich mit 16 anfühlte.
Immer, wenn ich ihn auf dem Schulflur traf, versuchte ich mich in jemanden zu verwandeln, der selbstbewusst und attraktiv wirkte. Ich kannte jeden Song und jede Gruppe, die er gerne hörte, wusste, welche Pizza er am liebsten aß und wer seine besten Freunde waren. Ich fühlte, wie mein Herz fast zersprang, wenn er in meine Richtung sah, wenn er in der Klasse eine gute Note erhielt oder andere über seine Witze lachten.
Ich ließ mich von ihm nach Hause begleiten, in einer kühlen Oktobernacht und ignorierte die Kälte. Als er sich nach vorne lehnte, um mir einen Kuss zu geben, ließ ich ihn. Ich öffnete erstaunt die Augen, als ich merkte, dass da eine Zunge war. Vor Schreck hielt ich mich an seinem Pullover fest, ließ ihn wieder los, war unschlüssig, ob ich ihn näher ziehen oder ihn wegstoßen sollte. Ich gab ihm eine Ohrfeige, als es vorüber war, weil ich nicht wusste, wie ich ihm sonst zeigen sollte, dass ich ihn mochte.
Mit 18 dann saß ich mit einem Jungen in einem Auto und wir hörten Musik, an die ich mich noch heute erinnere.
Es passierte nur dieses eine Mal, dass ich meine Jungfräulichkeit verlor, aber es war das erste Mal, dass ich mich selbst verlor. Wir gingen zu Konzerten, weil er die Musik mochte, sahen Filme, weil er es wollte. Dafür blieb er manchmal auch mit mir allein und wir redeten und schmusten die halbe Nacht. Wir waren verliebt. Wenn wir zusammen im Auto fuhren – in ein langes Wochenende oder einfach nur in der Stadt herum, sah ich aus dem Fenster. Während meine Hand in seinem Nacken oder auf seinem Knie lag, betrachtete ich Gehsteige und Kilometer, die vorbeiflitzen und alles verwischte zu einem undeutlichen Etwas, in dem ich meine Zukunft erkannte.
Mit Mitte 20 liebte ich, ohne groß darüber nachzudenken.
Leidenschaftlich und intensiv. Wir konnten uns stundenlang nur ansehen, ich hielt seine Hand und konnte mich durch einen Blick in seine Augen vergewissern, dass auch er Ähnliches empfand. Wenn wir getrennt voneinander waren, sagte ich ihm am Telefon, wie sehr ich ihn vermisste und horchte auf seinen Atem, nur um ihm nah zu sein. Als wir uns gestritten und getrennt hatten, schnitt ich mir die Haare ab und putzte den Küchenfußboden mit einer Zahnbürste, um die Heulkrämpfe zu unterdrücken. Als wir uns wieder trafen, kamen wir tagelang nicht aus dem Schlafzimmer.
Mit 30 liebte ich trotz Enttäuschungen, trotz Ängsten.
Weil ich erwachsen geworden war und glaubte, dass ich nicht mehr viel Zeit hätte. Weil die Möglichkeiten beschränkter zu sein schienen und ich Halt brauchte. Wir waren glücklich zusammen, weil wir nicht allein waren. Wir fanden es wichtig, Dinge gemeinsam zu tun und doch fiel es mir schwerer als früher, Dinge nur ihm zuliebe zu tun. Wir gehorchten den Gesetzen der Natur und gründeten eine Familie, weil wir es beide wollten und glaubten, dafür den richtigen Partner gefunden zu haben. Ich glaubte an unsere Zukunft, auch wenn mir mein Bauch sagte, dass sie nicht so sicher war. Ich liebte, weil es einfacher war, als weiter zu suchen.
Mit Mitte 40 liebe ich nun, als wenn die Zukunft schon da war, vorbeiging und wieder kommen wird.
Es fühlt sich großartig an, sich nicht festlegen zu müssen, aber es dennoch zu wollen. Weil ich weiß, wer ich bin und erkenne, wer er ist und was wir sind. Das zu wissen macht alles andere machbar. Wir haben uns viel zu geben, und ich habe dazu gelernt, nämlich anzunehmen.
Mit 70 werde ich vielleicht aus dem Fenster sehen oder fernsehen oder eine Zeitung lesen und das Gefühl haben, dass die Welt sich auch ohne mich weiter dreht und sie mich zurücklässt.
Und ich werde das, was ich verpasst habe oder gern getan hätte, alles, was mir nicht mehr möglich sein wird, kaum an beiden Händen abzählen können. Doch dagegen wird ein Ding schwerer wiegen als alle anderen. Die eine Sache, die immer noch Sinn macht, die immer von Bedeutung war. Die mein Leben lebenswert und schön gemacht hat. Und ich werde denken, es ist gut so.