Die Singularität der Partikulierung
© Nisham 12/2011Jetzt ist es so weit. Ich bin an der Reihe. Ich verspüre kein Herzklopfen. Warum auch? Ich bin doch darauf lange und hervorragend vorbereitet worden. Und ich bin ja nicht der Erste. Einige sind ja schon vor mir durch, und es scheint alles geklappt zu haben. Ich weiß auch, wie es sich anfühlen wird. Oder besser: Rein gar nichts wird sich anfühlen.
Es geht ja nun alles vollautomatisch, ferngesteuert von den neuronalen Kontrollzentren – damit der menschliche Risikofaktor ausgeschlossen werden kann. So viel Kapazität und Leistung schaffen wir ja selber nicht, weil zu viele Parameter und Daten wirklich gleichzeitig verarbeitet werden müssen. Doch die neuronalen Kontrollzentren, die sind unfehlbar.
Mein Körper wird noch mal vollständig gereinigt, innen wie außen. Jede atomare Verunreinigung wird präzise entfernt. Es ist ein etwas komisches Gefühl, denn es kitzelt und juckt leicht und ein Gefühl von Kälte steigt in mir auf. Auch das kenne ich, doch es ist mir nie angenehm geworden. Dann wird mein Körper von der Reinigungsröhre in die Partikelröhre verschoben, ohne dass mein Körper Kontakt mit irgendeinem Material hat. Reinste Luftpartikel umhüllen und tragen mich.
Dann wird es dunkel und mein Bewusstsein driftet weg.
Das Prozedere läuft routiniert ab, obschon sich die Experten immer wieder wundern, dass sie es geschafft haben und es wirklich funktioniert. Dass sich die neuronalen Kontrollzentren selber weiterentwickelt haben, das hatten sie geplant, doch dass die Entwicklung so rasant sein würde, daran hatten sie nicht geglaubt. Jetzt war es zu spät. Das neuronale Kontrollzentrum hatte die Kontrolle vollständig übernommen. Nicht nur über den Singularen Partikelbeschleuniger, sondern über sehr viel mehr.
Der Prozess geht schnell und unaufhaltsam vor sich. Das zu verschiebende Objekt – diesmal wieder ein Mensch – war in der Röhre und Augenblicke später ertönte ein leises Signal, die Röhre schon wieder bereit für den nächsten Abschuss. So nennen die Experten es mittlerweile, denn es dauerte kaum Länger, als zu früheren Zeiten, eine Kanonkugel brauchte um aus dem Lauf einer Kanone zu schießen.
Das neuronale Kontrollzentrum meldet: Ziel erreicht.
Ich komme schlagartig wieder zu mir. Gleite gerade aus der Röhre. Nein, nicht aus der, in die ich hinein geschoben worden bin, sondern in einer Anderen sehr weit weg von meinem Ausgansort.. Hier sieht alles ähnlich aus, doch auch wieder ganz anders. Ich bin völlig nackt und mich fröstelt es. Ansonsten merke ich keinen Unterschied. Ich blicke an mir runter. Alles ist so, wie ich das von mir kenne. Ich fahre mit einer Hand durch meine Haare – kein Unterschied zu vorhin.
Eine Tür geht auf und ich trete in einen Raum einer Art Lichtraum mit großen Fenstern. Draußen sehe ich eine grünblaue Landschaft und der Himmel sieht eher rosarot aus, denn blau, obschon die Sonne ziemlich hoch steht. Das irritiert mich nur kurz, wahrscheinlich muss sich das Hirn noch ein wenig einstellen – auf Farben und so. Ich mache mir da keine weiteren Gedanken.
Wie ich instruiert worden bin, soll ich hier eine Weile bleiben, um mich zu akklimatisieren. Und wie ich da so stehe, beginnt es in mir zu kribbeln. Nein, nicht auf der Haut, sondern in mir, ganz tief drinnen. Dieses Gefühl wird immer stärker. Ich habe den Eindruck, als würde ich mich von mir selber loslösen.
Meine Hände und meine Füße kribbeln nun auch und das recht heftig – es ist beinahe unerträglich. Ich setze mich auf den Boden. Schaue auf meine Hände, meine Füße. Und dann sehe ich es auch, ich fühle es nur nicht. Ich löse mich auf! Unmerklich zwar, doch meine Fingerspitzen verschwinden, genau so wie meine Zehen! Ich kann zuschauen. Bin wie gelähmt. Und es tut nicht einmal weh.
Meine Finger sind jetzt weg, meine Hand schon halb und auch meine Füße verschwinden. Ich will schreien, doch kein Ton kommt aus meinem Mund.
Ich bin fassungslos. Schaue zu, wie ich mich auflöse, Partikel um Partikel. Ein jedes Atom meines Körpers löst sich auf, löst sich in unendlich kleine Partikel auf. Genau so, wie das in der Röhre passiert ist, als sie mich mit massiver Überlichtgeschwindigkeit hierher gebeamt haben. Ach ja, mir fällt noch grad ein – gerade als mein körperlicher Zerfall weiter voranschreitet – die Experten mögen das Wort „beamen“ überhaupt nicht; sie sprechen immer nur von einem „singulären Partikel Transfer“. Weil die Atome in noch viel kleinere Partikel aufgelöst werden, denn nur so können sie mit Überlichtgeschwindigkeit transferiert und wieder zusammengesetzt werden.
Nur bin ich jetzt nicht mehr in der Transfer-Röhre. Meine Arme sind nur noch Stummel und meine Beine bis zu den Knien weg. Ich schaue nur zu, wie ich mich auflöse.
Mein letzter Gedanke: wo werden diese Partikel wohl wieder zusammenfinden. Wenn überhaupt…