Model wider Willen
Als er sie zum ersten Mal sah, saß sie auf einer Bank an der Promenade und schaute aufs Wasser. Er ging zügig, um nicht zu spät zu erscheinen, seine Mappe unter den Arm geklemmt und den Mantelkragen gegen den kalten Wind hochgeschlagen. Er sah sie von weitem, eine schwarzgekleidete Gestalt, eingehüllt in einen langen Mantel, eine Frau, das Gesicht bleich unter dem streng hochgesteckten, dunklen Haar. Im Wind lösten sich Haarsträhnen, die sie sich abwesend hinter ihr Ohr steckte. Das waren die einzigen Bewegungen, die er sie machen sah, während er vorbeilief und auch als er sich noch mal umdrehte, bereits am Ziel angelangt, sah er sie rührungslos da sitzen. War sie traurig? Nachdenklich? Sie schien die Passanten nicht zu bemerken und blickte auch nicht den Schiffen nach, starrte einfach vor sich hin, Richtung Fluss. Er hätte sie gerne länger beobachtet, irgendetwas an ihr war anders, geheimnisvoll, aber sein Termin war wichtig.
Nach einer guten halben Stunde wurde er mit einer Handbewegung entlassen. Er presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen Fluch, nickte der falschen Blondine am Ausgang zu und atmete tief die kalte Luft ein, als er wieder draußen stand. Kurz überlegte er, in welche Richtung er von hier aus nach Hause laufen sollte und entschied sich, wieder die Promenade zurück zu nehmen.
Der frische Wind würde ihm gut tun. Und vielleicht wäre sie ja noch da. Schon von weitem sah er sie, noch genauso bewegungslos und ernst. Er lief langsamer und nahm ihren Anblick in sich auf. Lange Beine waren vor ihr ausgestreckt und sie hielt sich mit einer Hand den Mantel am Hals zu. Das Gesicht konnte er jetzt besser sehen.
Klassische, hohe Brauenbögen, ein kleiner Mund, mit hübschen, vollen Lippen. Die Nase war gebogen und schmal, die Wangenknochen hoch und herausragend. Mit professionellem Blick sah er genau das Außergewöhnliche, das er suchte. Mit den Augen des Mannes, der er auch war, eine interessante Frau. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, fragte er sich, wie er sie ansprechen könnte. Er entdeckte eine weitere Bank gegenüber, einen Steinwurf entfernt. Also ging er normal weiter, an ihr vorbei und direkt darauf zu.
Er setzte sich, legte seine Mappe vorsichtig neben sich und sah zu ihr rüber, so unauffällig wie möglich. Sie schloss die Augen, legte den Kopf auf die Bank zurück und er sah vor sich, in welchem Ausschnitt er das aufnehmen würde. Mark suchte selten nach Models für seine Projekte, meistens passierte es einfach, wie jetzt, dass er etwas sah, das er festhalten wollte. Seine Studienobjekte mussten etwas Außergewöhnliches haben, eine Schönheit auf den zweiten Blick und er hatte seinen Blick darin geübt, erkannte Ästhetik, wo andere nicht zweimal hinschauen würden.
Sie war schön. Keine aufgesetzte Maske, frisch aus dem Kosmetikstudio, und mit aufreizenden Klamotten. Warum ging er nicht einfach rüber, stellte sich vor und erzählte ihr, dass er Fotograf sei und gab ihr seine Karte? Sie war interessant. Er musste sich eingestehen, nervös zu sein, mehr als nur, weil er sie ihn für einen Perversen halten könnte, wenn er sagte, er wolle sie fotografieren. Sie war sein Typ, er würde sie gern näher kennenlernen. Er wollte ihre Stimme hören, ihren Namen wissen, ihr Lachen hören, wissen, was sie mochte, warum sie so traurig war.
Sie schien zu zittern und zog den Mantel enger um sich, während sie sich aufsetzte. Sie drehte sich zu ihrer Ledertasche. Rasch nahm er seine Mappe und stand auf, ging die paar Schritte in ihre Richtung und stand vor ihr, als sie in ihrer Tasche nach etwas wühlte, noch immer sitzend. „Hallo. Entschuldigen Sie bitte.“, fing er an. „Ja?“. Sie lächelte nicht zurück, als er ihr sein schönstes Lächeln schenkte. „Es tut mir leid, wenn ich sie störe. Ich habe… ich sah sie hier sitzen und wollte... ich möchte sie gern etwas fragen.“ Er setzte sich neben sie „Darf ich?“
„Ich wollte gerade gehen. Was ist denn?“ Sie klang genervt. Er musste jetzt seinen ganzen Charme gebrauchen. „Mein Name ist Mark, Mark Milberg. Ich… ich bin Fotograf. Sie sind mir aufgefallen.“ Ihr Gesicht sagte `Macht der Witze?` Sie würde sicher gleich gehen. „Ich meine es ernst. Ich suche immer nach geeigneten Modellen, keine Mode oder so was, für mein persönliches Projekt. Ich bin Künstler, ich suche nach außergewöhnlichen Gesichtern.“
Das kam alles nicht so rüber, wie er es gerne wollte. Zumindest hörte sie ihn an und ließ ihre Tasche neben sich liegen. Sie beobachtete ihn, sie schien ihn genauso im Detail aufzunehmen, wie er sie die ganze Zeit aus der Entfernung angestarrt hatte. Ihre Augen waren braun, fast schwarz und im Licht der Nachmittagssonne, die gerade durch die Wolken brach, sah er goldene Flecken darin.
„Es klingt komisch, ich weiß. Aber ich meine es genau, wie ich es sage. Ich würde sie gerne fotografieren. Sonst nichts.“ Eine Andeutung eines Lächelns kam über ihr Gesicht und mit amüsiertem Ton meinte sie „Sonst nichts? Sie möchten also nicht erst mal mit mir reden?“ Er grinste.
„Oh, doch, natürlich. Ich würde Sie gerne erst mal kennenlernen, selbstverständlich. Wie heißen Sie?“ Sie lächelte nicht mehr und schien darüber nachzudenken, wie viel sie ihm sagen sollte. „Ava, mit A.“, kam dann entschlossen und nicht mehr. „Ava, okay, wie Gardner? Also hören Sie, Ava.“ Er mochte den Namen und sagte ihn öfter, als vielleicht angebracht gewesen wäre, weil er es mochte, wie er aus seinem Mund klang.
„Ich möchte Sie gerne fotografieren, Ava, ihr Gesicht, Porträts für ein Projekt, an dem ich seit einiger Zeit arbeite. Sie sind herzlich eingeladen, Ava, sich erst mal anzuschauen, was ich bisher gemacht habe. Ich würde Ihnen gerne alles erklären. Wären Sie damit einverstanden, mich in meinem Studio zu besuchen, Ava? Sie können es sich ja überlegen, wenn sie gesehen haben, was ich meine.“ Jetzt müsste er seine Visitenkarte rausholen und einfach abwarten, ob sie ihn anrufen würde. Er übte nie Druck aus, es musste freiwillig passieren. Aber irgendwie hatte er keine Lust sie gehen lassen, ohne sicher zu sein, er könnte sie wiedersehen.
Ihre Augen wanderten an ihm hoch und runter und nickte sie zu der Mappe unter seinem Arm. „Sind da Fotos von Ihnen drin?“ „Oh, die ja, aber das ist was anderes. Ein Job.“ „Darf ich mal sehen?“
„Das hat absolut nichts mit dem zu tun, wovon ich geredet habe. Das mach ich zum Leben, man kann sich nicht jeden Job aussuchen.“ Er rutschte auf der Bank hin und her, aber sie streckte lächelnd die Hand aus und er gab ihr die Mappe mit einem tiefen Seufzer. Sie schlug sie auf ihrem Schoß auf und studierte ein Bild nach dem anderen, fasste vorsichtig mit den Fingerspitzen nur die Ecken an.
„Diese wurden nicht gewählt. Es sind Illustrationen zu einem Artikel über Kindertagesstätten. Die sie wollten, hab ich gerade abgegeben.“
Ava sah sich die Fotos eins nach dem anderen an, bevor sie die Mappe zuklappte und ihm wieder rüberreichte. Es waren Nahaufnahmen dabei von Kleinkindern mit verdreckten Gesichtern, lachend und albern, aber auch stimmungsvolle Bilder vom Spielplatz und rührende Porträts von Betreuerinnen, wie sie Kinder trösteten oder fütterten. Sie gefielen ihr, sie drückten mehr aus, als das Offensichtliche.
Es schien, als hätte er auf den richtigen Moment gewartet und alles stimmte. Das Kind mit der Wunde auf dem Knie, das sich zusammenriss und tapfer sein wollte, während die Kindergärtnerin behutsam ein Küsschen auf seine Wange drückte. Der Junge auf der Rutsche, der seine Autos runterfahren ließ, so konzentriert und fasziniert von der Schnelligkeit.
Sie hatte keine Ahnung von Fotografie, aber diese Bilder gefielen ihr, jedes einzelne erzählte eine Geschichte. Nachdenklich sah sie wieder zu diesem Mann neben ihr. Er war ihr kurz aufgefallen, als er an ihr vorbei und zu der nächsten Bank gegangen war, in schwarz gekleidet wie sie, groß und schlank, die etwas zu langen Haare vom Wind zerzaust, aber sie hatte nicht mehr auf ihn geachtet, bis er sie ansprach. Sie war zu sehr in ihren eigenen Gedanken vertieft gewesen. Und dabei zu keinem Ergebnis gekommen.
Als er plötzlich neben ihr stand, war sie erschrocken, aber von seinen Worten sehr geschmeichelt gewesen. Aber behalten hatte sie hauptsächlich `außergewöhnlich`, `Künstler` und `Projekt`. Es war ja nun nicht gerade so, als wäre sie nun gerade entdeckt worden. Der Traum jedes Mädchens, aber sie wusste nun mal besser, dass sie keine Schönheit war. Sie sah außergewöhnlich aus, ja, das konnte man in alle Richtungen deuten. Es hieß so viel wie anders, nicht der Norm entsprechend, zum Teufel, ja, mit ihrer Hakennase sah sie nun mal nicht wie eine Titelblattschönheit aus, nicht mal für „Frau mit Herz“.
Dieser Mann hier dagegen, er sah wirklich gut aus. Nicht wie aus dem Herrenmodekatalog, aber sehr interessant. Ein leichter Bartschatten betonte seine ausgeprägte Kinnpartie, die dichten Augenbrauen warfen Schatten über grau-grünen Augen, die so intensiv zu leuchten schienen, wenn er sie ansah. Er gefiel ihr ausgesprochen gut.
`Aber fang jetzt bloß nicht an zu träumen`, dachte sie. `Er will dich für sein Projekt fotografieren, das heißt nicht, dass er dich wollte.` Gucken war aber nicht verboten, entschuldigte sie ihr Starren, als seine langen Finger die Mappe wieder nahmen, als wäre sie zerbrechlich und wertvoll. Er liebte seine Arbeit, auch wenn es nur ein Job war, so viel war klar. Sie konnte ihn riechen, ein moschusartiges Rasierwasser? Sie richtete sich auf und verschränkte ihre Hände vor sich im Schoß. „Sie sind gut. Sie haben nicht gelogen. Sie sind Fotograf. Und Künstler.“
Mark sah sie überrascht an. „Danke.“ Er freute sich über das Kompliment, es klang aufrichtig. Er hatte sich zurückgelehnt und sie beobachtet, als sie seine Bilder studierte. Wie ernst und gewissenhaft sie das tat. Wie gut man auf ihrem Gesicht ablesen konnte, was sie von jedem einzelnen hielt. Er hatte Rührung, Vergnügen, Mitgefühl und echtes Interesse gesehen, nur von der Seite, an ihren Lippen und auf ihrer Stirn. Ihr Profil erinnerte ihn an griechische Statuen.
Er merkte, dass sie zu lange nebeneinander saßen und schwiegen. „Und was machen Sie beruflich?“ Er hätte sich am liebsten vor den Kopf geschlagen. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. „Ich bin Übersetzerin. Ich mache auch viele Jobs, weil man von etwas leben muss.“
Es gefiel ihm, wie sie seine Worte gebrauchte, dass sie ihm zugehört hatte und er bekam das Gefühl, sie verstünde ihn. Er wollte weiterfragen, welche Sprachen sie sprach und was für Texte sie schrieb, aber sie überraschte ihn wieder. „Also, wann möchten sie das machen?“ „Ähm, wie bitte?“
„Die Fotos. Wann möchten Sie, dass ich in ihr Studio komme?“ Er war perplex, aber ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Das sah hoffentlich nicht allzu begeistert aus, aber er freute sich ehrlich. Er würde sie wiedersehen. „Nun, wann Sie wollen. Mein Studio ist hier ganz in der Nähe, ich gebe Ihnen meine Karte, dann vereinbaren wir einen Termin.“ „Hatten Sie heute noch was vor? Ich meine, warum nicht gleich? Ich habe Zeit.“
Sie schaute ihm direkt in die Augen, aber mit gesenktem Kopf, so dass ihn die dichten Wimpern und ihr tiefer, ernster Blick von unten zu ihm hoch sehr beeindruckten. „Je-jetzt? Ähm, nun, warum nicht? Nein, ich hatte nichts Besonderes vor.“
Er riss sich zusammen, um seine Aufregung nicht allzu spürbar zu machen. „Ja, gerne, okay, kommen Sie.“
Er stand auf und hielt ihr seine Hand hin. Sie schwang ihre Tasche auf die Schulter und nahm seine Hand, erhob sich und drückte sie leicht, bevor sie sie ihm entzog und ihre Hände in den Manteltaschen vergrub. Nebeneinander liefen sie die Promenade weiter runter, dann führte er sie ein paar Straßen weiter bis vor sein Haus.
Fortsetzung folgt--