Stabilität
„Ich glaube, ich liebe dich!“Wie konnte er das sagen? Sie kannten sich doch kaum! Sie antwortete nicht. Sie lächelte etwas verkrampft und lenkte auf ein anderes Thema. Er bedrängte sie zum Glück nicht.
„Tut mir leid, das kommt wohl etwas überraschend. Sollen wir dann mal ins Kino gehen, wie geplant?“
Sie war froh, dass er es dabei beließ. Sie hatte doch gerade erst gelernt, dass sie schon sich so oft viel zu schnell verliebt hatte. Sie fühlte sich nicht bereit, ihr neu erworbenes Wissen anzuwenden und auszuprobieren, ob sie es diesmal anders erleben würde. Sie war noch nicht soweit. Oder?
„Na, dann komm. Ich möchte dich danach auf einen Drink mitnehmen – in meine Lieblingskneipe. Ich hoffe, es gefällt dir da auch. Lass mich dir in den Mantel helfen.“
Noch vor ein paar Monaten war sie anders gewesen, hätte sie anders reagiert. Damals lebte sie aus, was sie instinktiv spürte: dass sich verlieben war, was sie brauchte, nicht die jeweilige Person. Diese überschäumende Freude, das Glücksgefühl, plötzlich aus heiterem Himmel Verliebtheit zu spüren, wollte sie immer wieder erleben und schaute sich den Mann, der dies in ihr auslöste, gar nicht genauer an.
„So, wie du heute Abend aussiehst könnte ich dich auch in ein feineres Etablissement ausführen, aber ich kann mich da wohl nicht blicken lassen. Mich musst du mit Jeans und T-Shirt nehmen, Anzüge stehen mir nicht.“
Sie konnte, so rasch, wie sie die Gefühle zuließ, die Komplexität eines anderen Menschen noch gar nicht erfasst haben. Sie konnte das Innere des Mannes gar nicht erkennen, sondern verliebte sich in Äußerlichkeiten, Oberflächliches. Das musste sie erst durch viele Enttäuschungen, viele Gespräche mit erfahrenen Menschen und viel Zeit lernen.
Langsam und schmerzhaft dämmerte es ihr, dass sie, wenn sie verliebt war, tatsächlich nicht von dem Mensch an sich, sondern von etwas in ihm angezogen wurde, dass sie nicht völlig begriff. Etwas, das sie sich abgucken wollte, seine Lebensfreude, seinen Stil, seine Begeisterungsfähigkeit, seine Stabilität. Etwas, das ihr selbst fehlte und das sie hoffte, mit der Vereinigung mit diesem Menschen für sich gewinnen zu können.
„Gehst du morgen mit mir in die Ausstellung von der wir sprachen? Ich kann früher von der Arbeit weg und dich abholen, wenn du möchstest. Natürlich nur, wenn du nicht schon andere Pläne hast.“
Früher verliebte sie sich daher schnell und feurig und mit einer verzweifelten Alles oder Nichts-Mentalität, die sich auf Dauer anfühlte, als wenn sie sich immer wieder gegen eine geschlossene Tür warf.
Nachdem sie dadurch eine schlechte Erfahrung nach der anderen gesammelt hatte, und doch immer wieder auf die Suche ging nach dem nächsten Kick, dem nächsten Mann, der ihr das Gefühl gab, dass sie etwas Besonderes erlebte, wurde es zu viel.
Sie war am Boden angelangt und erkannte die Sucht nach Gefühlen, die sie sich größtenteils eingebildet hatte. Die Suche nach der Liebe war zu einer Sucht nach Emotionen, Höhepunkten, oberflächlichen Kontakten geworden. Und es reichte nicht mehr.
„Du siehst wirklich toll aus. Ich freue mich, dass wir uns so schnell wiedersehen konnten, ich konnte nämlich ehrlich gesagt nach unserem ersten Treffen nicht aufhören, an dich zu denken. Hoffentlich bin ich dir mit meinen Mails nicht auf die Nerven gegangen.“
Da wo sie vorher ungestüm, leidenschaftlich, verzweifelt und mit totalem Einsatz Verliebtheit empfand, nur weil sie sie sich in Liebe hatte wandeln sehen wollen, fühlte sie sich nun abgestumpft.
Es tat ihr nichts mehr, wenn sie jemanden traf, der so war, wie sie sich wünschte zu sein. Und das war gut so. Sie verliebte sich nicht mehr in jeden gutaussehenden, glücklich aussehenden Menschen und auch nicht mehr in die verführerischen, sie umwerbenden. Sie zog sich zurück, dachte über sich selbst und was sie wirklich wollte, gründlich nach.
„Es ist kaum zu glauben, dass eine Frau wie du Single ist. Ich werde wohl ne Weile brauchen, bevor ich das verstehe. Bisher dachte ich, Frauen wären schwer nachvollziehbar, aber langsam denke ich, die Männer ticken nicht richtig, wenn sie nicht erkannt haben, was für eine tolle, ungewöhnliche Frau du bist.“
Sie sah es endlich ein, dass sie sich ändern musste und nicht andere dazu bringen konnte, sie zu ändern. Dass sie für ihr Glück verantwortlich war. Dass sie nicht begreifen musste, wie andere es schafften, glücklich zu sein, sondern ihren Weg finden musste. Solche Binsenwahrheiten, die ihr so viele unterschiedliche Leute schon gesagt hatten, die in so vielen Büchern nachzulesen waren. Doch es wirklich zu verstehen und dann auch leben zu können, war eine ganz andere Sache.
Konnte dieser Mann ihr bei ihrem Ausweg helfen? Würde er sie weiterhin lieb und behutsam und geduldig behandeln und ihr die Zeit lassen, die sie brauchte, um die Liebe, die immer noch in ihr war und hinaus wollte, bedächtig und vorsichtig wachsen lassen? Aus den richtigen Gründen? Sie hoffte es.
„Ich freue mich, dass wir uns morgen schon wiedersehen können. Ich bin gern mit dir zusammen. Sag mir ruhig ehrlich, wenn es dir nicht passt, aber ich möchte so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen.“
Es würde einfach passieren, wenn sie es nur schaffte, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Wenn sie es einfach passieren ließ und keine Angst mehr davor hätte, wieder nur einen Fehler zu machen, wieder aus den falschen Gründen ihr Herz zu verschenken.
Sie mochte ihn, das war ein guter Anfang. Mehr brauchte sie im Moment nicht. Sollte sie nicht brauchen, sollte sie nicht wollen. Sich den guten Gefühlen hinzugeben, ihre Bedürfnisse von ihm befriedigen zu lassen, wäre verkehrt.
„Ist es nicht unglaublich, dass wir so viele gemeinsame Interessen haben? Ich bin nie zuvor einer Frau begegnet, die mal eben das Buch aus dem Regal zieht, von dem ich zitiere, oder den Filmdialog zu Ende aufsagt, von dem ich gerade sprach. Das haut mich um.“
Dass er sie offenbar liebte, tat ihr gut, schmeichelte und gefiel ihr. Doch ihm deswegen um den Hals fallen und das Zusammensein genießen, war ihr nicht möglich. Noch nicht.
Wenn er Verständnis zeigte, könnte sich daraus etwas ganz Besonderes entwickeln, etwas Neues, Einzigartiges, Ungekanntes. Sie brauchten nur etwas Zeit.
Zum Prüfen, zum Genießen, zum Kennenlernen, zum Entdecken, zum Zusammensein ohne Zwänge. Und sie würde sie nutzen.
„Gehen wir?“
„Gerne.“