Simira
SimiraEs waren ihre letzten Atemzüge, die sie über ihr Leben resümierend, tat. Vor dreißig Jahren war sie gefunden worden, ein Bündel Mensch in einem verheerten Dorf, von Dämonenkriegern zerstört, und alle jungen und kräftigen Anwohner verschleppt. Nun lag sie selbst auf dem Schlachtfeld und fühlte, wie ihr das Leben aus den zerfetzten Adern floss. Nichts hatte sie aufhalten können, gar nichts, weder Hass noch Liebe hatten es vermocht, den Orden zu ändern, den Fluss der Zeit umzulenken oder den Mann ihres Herzens zu halten.
Sie schloss die Augen, um die Bilder zu sehen, den Weg zurückzugehen, als sie ins Drachendorf gekommen waren, ihr damaliger Meister, der Mondor des Ordens, Teregor Erzschwinge und sie, mit einem Dutzend Krieger des Ordens, die sie dann verlassen mussten, weil ihnen ansonst das Bleiberecht verwehrt worden wäre. Simira hatte es lieben gelernt, das Dorfleben, die Leute, die sich mehr um sich selbst, als um andere kümmerten und sie hatte sich verändert.
Ein leises Seufzen entrang sich ihrer Brust und eine einzige Träne saß im Winkel des rechten Auges fest, selbst ihr fehlte die Kraft, sich zu lösen. „Pretourias, tecum“, dachte sie, denn zum Reden war sie zu schwach. „Tecum tecates in aternum pretourias.“ In der uralten und beinahe vergessenen Sprache des Heiligen Ordens grüßte sie ihren Gott Pretourias, dem sie ihr Leben geweiht hatte und nun wusste sie, dass sie bald die allumfassende Wahrheit erkennen würde, nach der sie ihr ganzes, kurzes Leben gesucht hatte.
In all dem Rauch und Nebel, der sie nun umgab, hörte sie Schritte und Stimmen. Jemand näherte sich. Es war ihr gleichgültig, denn schon merkte sie, wie ihre Sinne schwanden und sie freute sich darüber. „Simira … Orudura Simira, wir werden Euch nachhause bringen“, sagte jemand. Sie wollte lachen, dagegen protestieren, sie war keine Orudura, auf den Titel hatte sie verzichtet, sie war auch keine Kriegerin. Seit ihrer Zeit der Ausbildung zum Orudur hatte sie gewusst, dass sie nicht zum Krieger geschaffen war, sie war Predigerin, Seelsorgerin und das hatte ihr Meister gewusst, auch wenn er nicht immer mit ihr einverstanden gewesen war. Er hatte sie predigen lassen. „O infallaba mondurus“, dachte sie, wenn sie die Kraft gehabt hätte, hätte sie gelacht. Sehr oft hatte sie ihn so genannt: „O unfehlbarer Mondor.“ Manchmal hatte sie ihn gehasst und manchmal geliebt.
Jemand hob sie hoch, sie merkte es nicht einmal, und redete auf sie ein. Doch die Priesterin war in Gedanken bei der Liebe, der Liebe ihres Lebens, den sie aufgegeben hatte, aus Angst davor, verletzt zu werden oder selbst zu verletzen. Die einzelne Träne löste sich nun und perlte langsam die Wange hinab. Nicht einmal diese Wärme konnte sie mehr erreichen. Sie fühlte nichts mehr, nichts als Kälte, die nach ihr griff und ihr nun ihre Fehlleistungen vorhielt.
In Gedanken rief sich nach Teregor. Immer waren sie die letzten Jahre zusammen gewesen, hatten gearbeitet, sich gegenseitig das Leben schwer gemacht und füreinander gesorgt. Doch er war nicht die Liebe ihres Lebens, er war ihr Lehrer, Mentor und Vorgesetzter, ein gestrenger Meister, der sich seiner Rolle durchaus und mehr als bewusst war und ihr ihren Platz mehr als einmal gewiesen hatte. Niemals konnte sich Simira damit abfinden, etwas so sein zu lassen wie es war. Mit Feuereifer wollte sie den Orden reformieren, von unten nach oben, was ihr nie gelang, weil die mächtigen Ordensfürsten zu fest im Sattel saßen und von ihren Untergebenen unterstützt wurden. Es war die Zeit, als die Machtverhältnisse zu kippen drohten und Werthourias durfte nicht fallen. Krieger wurden gebraucht, Befehlshaber, Leute, die wussten, was sie taten, wenn sich die Membran öffnete und den Dämonen in all ihrer Hässlichkeit den Weg in den Kessel freigab.
Sie dachte an die vielen Leute, die sie im Drachendorf kennen gelernt hatte. Einige waren zu Freunden geworden und keinen davon hatte Teregor sonderlich geschätzt, was sie immer geschmerzt hatte. Alles was sie von ihrem Meister gewollt hatte, war menschliche Anerkennung. Nähe und Wärme, auch diese waren jetzt weg, waren nie dagewesen. Das Baby, das sie war, als sie gefunden worden war, war zum Sterben zurückgelassen worden. Nun war es endlich so weit. Der Strom an Blut, der ihren Körper verließ begann zu versiegen. Ihre Haut wurde noch weißer als sie so schon war und auch die Lippen verloren alle Farbe. Das einzig nicht Weiße an ihr, waren die Augen, die das Blau des Himmels an einem sonnigen Sommertag hatten und das Schönste an ihr gewesen waren. Nun waren die Lider geschlossen und sie lag da in ihrem eigenen Leichentuch aus Haut und Haar.
„Schwester Simira“, flüsterte jemand. Sie fragte sich, warum sie noch immer hören konnte. „Mach die Augen auf, Simira.“ Die Stimme war drängend, fordernd und sehr bekannt. „Nai serva, mondurus“, wollte sie flüstern, brachte aber die trockenen Lippen nicht auseinander, auch fehlte ihr der nötige Atem, um zu sprechen. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch in ihrem Körper war. Dann fühlte sie eine Hand, die über ihre Stirn strich und dann die Wange hinab. Ihr war kalt, so kalt. Jemand nahm sie in den Arm. Sie wusste nicht, was los war, wo sie war, ob sie lebte oder tot war oder einfach nur dazwischen. So wie sie sich immer dazwischen gefühlt hatte, nirgends zugehörig, ein Vermittler, der es schlussendlich nicht vermocht hatte, zwischen den Strömungen zu verhandeln, sondern zwischen die Mahlsteine geriet und vernichtet wurde. Etwas Kühles und Nasses traf ihre Lippen, fast zärtlich war die Berührung. Gierig schien die trockene Schleimhaut die Feuchtigkeit aufzusaugen. Das geschah mehrmals, bis sich ihre Zunge entschloss, dem Nass entgegenzueilen und sie die Lippen öffnete. „Mondor?“, hauchte sie. „Nai serva … mori.“
„Sch … du stirbst noch nicht, Simira.“
Er war es. Er war es tatsächlich. Nach all den politischen Kämpfen, die sie in den letzten Jahren ausgefochten hatten, war er gekommen. Sie konnte es kaum glauben und dennoch war es seine Stimme, die sie gehört hatte, seine Arme, die sie hielten und seine Hand, die sie streichelte. Seine Hand, die den letzten Streich ausführen würde. Sie wusste es wieder. Der Kampf war kein Krieg gewesen, es war eine Prüfung gewesen. Sie hatte versagt, versagen müssen. Niemals durfte Widerstand geduldet werden. Wer den Gehorsam verweigerte ging den letzten Weg.
Mondor Teregor Erzschwinge, einer der mächtigen Männer des Ordens und ehemaliger Meister Simiras saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Nichts als Trauer war in seinem Blick und auch seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. Er sah das Baby, das er aus den Trümmern des brennenden Dorfes gerettet hatte. Noch einmal fühlte er das Gewicht des schreienden Bündels, das er in den Orden gebracht und dort einer klerikalen Obhut übergeben hatte, die das Mädchen erzogen und auf das Leben als Ordensfrau vorbereitet hatte. Doch hatte er dabei etwas übersehen. Simira war wohl doch anders als andere, denn sie schien nie etwas von der sonst bei Oruduren üblichen fanatischen Einstellung zu übernehmen. Im Gegenteil, ging sie immer eigene Wege und schloss sich damit aus dem Verband der Gläubigen mehr und mehr aus. Auch schien sie eine Abneigung gegen den Krieg zu entwickeln und das obwohl sie bereits als Kind gelernt hatte, mit der Waffe umzugehen. Niemals schaffte sie es, jemanden damit niederzustrecken, so sehr sie sich auch bemühte. Abermals strich er ihr durchs Haar.
„Du bist doch wie ein Kind für mich“, murmelte er plötzlich.
„Ich habe Euch enttäuscht, Mondor“, antwortete sie leise, kaum hörbar, sodass sich Teregor zu ihr beugen und sein Ohr an ihren Mund halten musste. Seufzend strich er ihr abermals über den Kopf als er ihre Worte verstanden hatte. „Nein, das hast du nicht. Ich habe dir immer gesagt, du musst deinen Weg selbst finden. Was nicht heißt, dass er mir gefallen muss.“
Sie krallte die Hände ins Laken und ihr Körper bebte, dann hustete sie leise. Als sie wieder genug Luft und sich beruhigt hatte, flüsterte sie: „Das habt Ihr immer gesagt und mir dann meinen Platz gewiesen, Meister.“
„Weil du deinem Untergang entgegen gegangen bist, Simira.“
„Es war meine Entscheidung. Auch wenn Sie Euch falsch erschien … es ist mein Untergang und nicht Eurer.“
„Du hast viel zerstört, Simira Tausänger.“
Sie öffnete die Augen und starrte Teregor an, nichts als Trauer und eine tiefe Erkenntnis waren darin zu finden. „Vollendet es, Meister – beendet das, was Ihr angefangen habt, als Ihr mich gerettet habt. Es hätte nie sein dürfen …“
„Du redest zu viel, Kind“, sagte er streng wobei er selbst mit den Tränen kämpfte, weil er genau wusste, wozu er hier war, es aber nicht tun wollte. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Ich war auf einem Irrweg, Mondor Erzschwinge. Ihr hattet recht, es ist ein ewiger Kampf. Ich glaubte, man könnte in Frieden leben … mit etwas gutem Willen von beiden Seiten … Es geht nicht … die Wesen des Kessels sind nicht dafür geschaffen …“ Müde vom Reden schloss sie die Augen und ihre Hände entspannten sich etwas. „Ich habe keine Angst mehr. Ihr könnt es vollenden.“
Langsam zog Teregor den rituellen Dolch und hielt ihn über ihre Brust, die sich kaum merkbar hob und senkte. „Ich wollte nicht, dass es so kommt, Simira.“ Noch einmal öffnete sie die Augen und schaute ihn an, dann senkten sich ihre Lider und sie seufzte leise, als der Dolch ihre Haut durchbohrte und tief in ihr Fleisch eindrang, Blutgefäße durchtrennte und schließlich das Herz traf.
„So endet es, Simira Tausänger. Möge deine Seele gereinigt werden.“ Müde stand er auf, beugte sich zu der toten Frau hinab und küsste sie auf die Stirn. „So endet unser Weg.“ Sein Gesicht nahm einen bitteren Ausdruck an als der die Zelle verließ. Nie wieder sah man ihn hernach lachen.
(c) Herta 1/2012