Schreiende Stille
Die Sonne erhebt sich in schläfriger Langsamkeit am Horizont und erhellt nur zögernd den neuen Tag.Nebelgeister liegen dicht über dem Wasser und lassen den Schiffsverkehr auf dem Rhein nur schemenhaft erahnen.
Ein nahezu lautloses Bild harmonisch-träger Bewegung, märchenhaft ergänzt durch einige äsende Rehe, die sich von ihrem zurückhaltenden Besucher nicht stören lassen.
Schon oft hatte er sich in frühmorgendlicher Dunkelheit auf den Weg durch die Felder gemacht, um diesen perfekten Moment in sich aufzunehmen und Kraft aus ihm zu schöpfen.
Trotz seines ständigen Begleiters, der in seiner penetranten Art fähig war, schönste Stimmungen zu zerstören, war es ihm bisher gelungen, seinen körperlichen Mangel zu einer Art beneidenswerter Tugend umzufunktionieren.
Andere besuchten die esoterischsten Kurse oder begaben sich gar in Therapie, um abschalten zu können, doch er konnte abschalten oder in feinsten Nuancen regulieren.
Seine Hörgeräte gaben ihm die Möglichkeit, unerwünschte Geräusche ganz nach Belieben auszublenden - zumindest die von außen auf ihn eindringenden.
Doch seit der zwei Wochen zurückliegenden Operation war alles anders und der in seinen Ohren mitreisende Begleiter, dem er aus Ignoranz nie einen anderen Namen als den wissenschaftlichen gegeben hatte, gewann zunehmend Oberwasser.
Tinnitus aurium hatte die Stille für sich entdeckt und zerstörte in schrillsten Tönen jedes noch so harmonische Bild, immer lauter skandierend:
"Du bist taub!"
(mein Debüt in dieser Gruppe bzw. mein erster Text, den ich jemals einer größeren Öffentlichkeit preisgegeben habe. Autobiografisch, doch gerade deshalb mit der Bitte um nüchterne Analyse - auch wenn´s mir weh tut)