Das Märchen vom Nicht-Wollen
Es war einmal ein Königspaar und dieses Königspaar wünschte sich sehnlichst ein Kind. Lange Jahre wollte sich kein Kindersegen einstellen. Und als ihnen endlich eine Tochter geboren ward, war das Königspaar überglücklich. Sie hatten das Kind von ganzem Herzen lieb und lasen ihm alle seine Wünsche von den Augen ab. So hatte das kleine Prinzesschen es nie gelernt, um etwas zu bitten. Das Kind wuchs heran und es kam die Zeit, da die Prinzessin einen eigenen Willen entwickelte. Und immer, wenn es etwas wünschte, rief es: „Ich will es aber!“ und so geschah es, weil es eben das Königskind war und alle ihm untertan.Zuerst wurden es die anderen Kinder am Hofe leid, mit der Prinzessin zu spielen. Nie konnte sie warten, bis jemand sein Spielzeug freiwillig hergab. Sie rief dann, „Ich will es aber!“ Wenn die Kinder in einem schönen Spiel versunken waren und es die Prinzessin verdross, wollte sie sogleich etwas anderes spielen. Und wieder rief sie:“Ich will es aber!“ Aus diesem Grunde waren immer weniger Kinder bereit mit der Prinzessin spielen und zuletzt gar keines mehr.
Als nächstes wurden die Zofen und Bediensteten des Kindes überdrüssig. Ständig wollte die kleine Prinzessin irgendetwas, so dass der gesamte Hof nicht mehr seiner täglichen Arbeit nachgehen konnte. Wenn einer auf die Arbeit von einem anderen wartete, so lag das meist daran, dass die Prinzessin wieder:“Ich will es aber!“ gerufen hatte und dies zuerst geschehen musste. Dann hieß es unter den Bediensteten, dass der Prinzessin Wille sich gezeigt habe und deshalb die Arbeit liegen blieb. So waren bald alle die Prinzessin und ihren Willen leid. Da sie aber nichts tun konnten, wurden sie mürrisch und das frohgemute Leben am Hof wich der Sauertöpfigkeit. Niemand hatte mehr Freude an seiner Arbeit und schließlich merkten dies auch der König und die Königin.
Sie liebten freilich das Kind so sehr, dass sie ihm jeden Willen ließen. Sie zeigten sich zuvorkommend, damit die Prinzessin ja nicht rief:“Ich will es aber!“ und so die Diener von der Arbeit abhielt. So waren sie fast den ganzen Tag damit beschäftigt, sich um die Prinzessin zu sorgen. Dem Land ging es schlechter und schlechter. Als sie letztlich nicht einmal mehr regieren, die Streitigkeiten des Volkes nicht schlichten und die Höflichkeitsbesuche in den Nachbarländern nicht durchführen konnten, fassten sie einen Entschluss.
Es wurden alle Weisen, Magier und Feen des Landes zusammen gerufen, um darüber zu beratschlagen, wie das Kind zu bändigen sei. Nach vielen Tagen der Diskussion und vielen hunderten verworfenen Vorschlägen durch das Königspaar oder die Weisen, kamen die Versammelten endlich überein. Es ward entschieden, die Prinzessin ohne ihr Wissen mit einem Fluch zu belegen. Jedesmal, wenn sie hernach etwas wollte, sollte wie von Zauberhand aus ihrem Munde die Verneinung purzeln. Fortan würde sie rufen: „Ich will es aber nicht!“ Und weil alle gewohnt waren ihrem Willen zu folgen, würden sie genau das tun. Die Prinzessin würde solange nie wieder etwas erhalten, bis sie gelernt hatte, auf andere Rücksicht zu nehmen und höflich darum zu bitten. Mit diesem Tage wäre der Fluch von ihr genommen. Und so geschah es.
Dem Königspaar erschien die Aufgabe ganz einfach, denn sie glaubten ihre Tochter sei ein kluges Kind, das bald verstehen würde, den eigenen Willen zurück zu stellen. Die Eltern durften ihm dabei jedoch nicht helfen, sonst würde das Kind auf der Stelle tot umfallen. Und so war das Königspaar zur Schweigsamkeit verdammt. Sie standen ihrem Kind jedoch mit allem bei, versorgten es immer mit seinen Lieblingsspeisen und Kleidung und gaben ihm eine gute Erziehung.
Die Prinzessin merkte schnell, dass sie nicht mehr: „Ich will es aber!“ rufen konnte. Plötzlich taten alle genau das Gegenteil von dem, was sie wollte. Und so gab sie es binnen kurzem auf: „Ich will es aber!“ zu rufen. Die Prinzessin wusste jedoch keine Hilfe, wie sie es anstellen sollte, die Dinge zu bekommen. Das Nötigste erhielt sie von ihren Eltern. Und so war sie es alsbald zufrieden und spielte meistens wortlos mit den anderen Kindern. Sie aß lustlos ihre Lieblingsgerichte, die sie bereits nach kurzer Zeit widerlich fand, aber sie konnte ja keine anderen bekommen. Sie lernte fleißig und wurde augenscheinlich ein braves Kind. Alle waren wieder froh ihrer Arbeit nachgehen zu können und so kehrte der Alltag ins Schloss und ins ganze Land zurück.
Die Prinzessin tat meistens, was alle verlangten. Nur wenn sie selbst etwas wollte, so musste sie es allein tun, denn sie kam nie auf die Idee, jemanden zu bitten ihr zu helfen. Stattdessen schrie sie hin und wieder verzweifelt laut: „Ich will es aber nicht!“ Und alle hörten die Worte und taten das Gewünschte aus Angst vor dem Geschrei nicht, denn sie glaubten ja die Prinzessin wolle es nicht.
Aber die Mutter betrübte es sehr, die Prinzessin immer weiter vereinsamen zu sehen. So suchte sie Rat bei einer Fee. Diese hatte Mitleid mit dem Kind, denn es hatte sich ja schon so sehr gebessert. Daher schenkte die Fee dem Kind eine Freundin. Und diese Freundin war nur froh, wenn die Prinzessin es ebenfalls war, denn das macht Freundschaft aus. So fragte das Mädchen die Prinzessin immer: „Wollen wir in den Garten gehen?“ Und die Prinzessin nickte glücklich mit dem Kopf. Und das Mädchen fragte: „Wollen wir Purzelbäume schlagen?“ und die Prinzessin schüttelte den Kopf. Dann machte das Mädchen einen anderen Vorschlag und noch einen, bis die Prinzessin glücklich mit dem Kopf nickte. So lernte die Prinzessin Langmut und wurde bald wieder froh.
Und weil die Prinzessin so glücklich war, endlich wieder die Dinge zu tun, die sie auch wirklich wollte, wünschte sie, dass ihre Freundin auch glücklich war. Daher fragte sie ebenfalls die Freundin manchmal: „Willst du dieses oder jenes tun?“ Und die Freundin sagte, „Nur, wenn du es auch willst!“ Und manchmal wollte es die Prinzessin und manchmal auch nicht. Aber das machte nichts, denn „Ich will es nicht!“ konnte sie ja sagen. Und so lernte die Prinzessin, nicht nur an sich selbst zu denken.
Die Jahre vergingen und alles hätte so bleiben können, auch wenn der Fluch noch nicht gebrochen war. Das Land gedieh friedlich, ebenso die glücklichen Mädchen. Sie wuchsen zu jungen Frauen heran, während das Königspaar ebenfalls älter wurde. Es kam die Zeit, da die Prinzessin heiraten sollte, um selbst Königin des Landes zu werden. Und obschon es sie betrübte, nicht mehr ungestört mit ihrer Freundin nach ihrer eigenen Lust zu wandeln und zu handeln, blieb die Freundin allzeit um sie und so war die Prinzessin mit ihrem Prinzen zufrieden.
Der neue König betrug sich sehr höflich und war ein kluger Regent. Und weil die Prinzessin gelernt hatte, an andere zu denken, war sie ebenfalls eine gute Königin für ihr Volk und eine gute Ehefrau für ihren König. Und sie fragte ihn immer, was er tun wolle und das gleiche tat er mit ihr. So waren sie sich in ihren Handlungen immer einig und liebten einander sehr.
Eines Tages wollte der König seiner Königin zeigen, wie sehr er sie liebte. Er hatte oft das Glitzern in ihren Augen gesehen, wenn Gäste in der kostbaren und seltenen Seide gekleidet an ihrem Hofe weilten. Aber die Königin hütete sich den Wunsch danach zu äußern, denn sie wusste, was passieren würde. Der König deutete dies als Bescheidenheit und daher ließ er für seine Königin ein wunderschönes Kleid aus diesem Stoff anfertigen, wie es auf der ganzen Welt kein zweites gab.
Die Königin war sprachlos vor Überraschung als der König ihr das Kleid überreichte. Nie hatte sie geglaubt, dass er ihren sehnlichsten Wunsch erraten könnte. Und so achtete sie in ihrer Erleichterung einen Augenblick ihrer Worte nicht. Sie purzelten aus ihr heraus und dem verblüfften König entgegen: „Ich will es aber nicht!“. Aber es war ihr nicht möglich die Worte zurück zunehmen, oder gar das Gegenteil zu behaupten. Ja, sie war auch nicht fähig es zu begründen, denn sie hatte sich nie erklären können, woher diese Worte kamen.
Der König ließ also das Kleid in der Kleiderkammer verstauen, da er hoffte, die Königin möge sich es eines Tages noch anders überlegen. Wieder und wieder gingen seine Gedanken und Wege zu dem Kleid zurück, wünschte er doch so sehr seine Königin darin zu sehen. Aber jedesmal wenn er sie darauf ansprach, erschrak sie sehr und rief sogleich unwillig: „Ich will es aber nicht!“ So ließ es der König dabei bewenden, denn er hatte stets den Willen seiner Gattin respektiert, konnte sich die Sache aber nicht recht begreiflich machen.
Als er eines Tages wieder an der Kleiderkammer vorüber kam, bemerkte er darin ein Geräusch. Vorsichtig lugte er durch den Türspalt und traute seinen Augen kaum wie er sah, dass sich die Königin glücklich in dem Kleid drehte und wendete. Er umarmte die Königin so heftig voll Freude, dass er ihr fast die Luft dabei abdrückte. Daher konnte sie auch nicht rufen: „Ich will es aber nicht!“ Das hätte auch gar keinen Sinn mehr gehabt, hatte der König sich doch mit eigenen Augen vom Gegenteil überzeugt. „Also wolltest du es die ganze Zeit?“, frage er sie ungläubig. Die Königin hatte sich wieder gefasst und konnte darum die verfluchten Worte zurück halten. Sie nickte nur scheu. „Aber du hättest mich doch nur darum zu bitten brauchen!“, erklärte der König ihr. Und so erlöste er die Königin von ihrem Fluch, denn fortan konnte sie um alles bitten, was sie sich wünschte. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
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