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Lästige Gefühle *olove*

Lästige Gefühle *olove*
ein Thread mit hirnigen Annäherungen und sinnigen Storys zu vermeintlich negativen Gefühlen und entgleisenden Charakterzügen. Mitfühl und -schrieb, sowie -sicht (Bilder) erwünscht!

Kapitel 1

Schwermut versus Leichtsinn

Es gibt Tage, da möchte Mensch erst gar nicht aufstehen. Eigentlich scheint draussen die Sonne und die Vögel zwitschern, aus der Küche locken Kaffeeduft und der Geruch von frisch gebackenen Brötchen - doch Irgendetwas in mir will von Alledem nichts wissen. Manchmal ist es der noch lebendige Traum, der trotz emotionaler Dramatik und unangenehmer Handlung attraktiver erscheint, als die bevorstehende Realität. Ein ander Mal ist kein Grund auffindbar.
Psychologen sprechen von Depression; ich nenne es Schwermut. In jedem Fall handelt es sich um eine Gefühlslage, die negativ empfunden wird und je schneller desto besser wieder verschwinden soll.
An manchen Tagen ist der Spuk tatsächlich verschwunden, sobald Mensch die Füße aus dem kuscheligen Bett geschwungen und die ersten Schritte in den noch jungen Tag gewagt hat. Ob die Schwermut dann wirklich weg ist, fällt meist erst wieder auf, sobald eine etwas längere Pause im Alltagsstress der Aufmerksamkeit erlaubt, lange genug nach innen zu schauen.
Andere Gelegenheiten, in denen fortgesetzte Schwermut wahrnehmbar wird, sind gesellige Runden mit angeregtem und eigentlich sonst interessantem Gesprächsstoff, bei denen mir in keinster Weise nach Beteiligung zumute ist. Auch glückliche Gesichter von Liebespaaren oder Kindern - oder Musikstücke, die mir sonst ein Lächeln auf die Lippen zauberten, stören jetzt so, dass es fast weh tut.
Nichtsdestotrotz möchte ich hier eine Lanze für diese ungeliebte Gefühlslage brechen.
Da ich der festen Überzeugung bin, dass Alles, was aus meinem Inneren auftaucht, einen Sinn hat, verbietet sich für mich vorschnelles und unreflektiertes Beseitigen; sei es mit Psychotricks oder gar Unterdrückungschemikalien. Wie der Name schon sagt, ist dies bei Schwermut sowieso kein leichtes Unterfangen. Selbst die besten Argumente und Überzeugungskräfte versagen hier in der Regel.

Was also macht so etwas Unangenehmes wie Schwermut für mich als Mensch wertvoll? Warum zum Teufel sollte ich dieses Gefühl gewähren lassen?
Ehrlich gesagt, frage ich mich das jedes verdammte Mal von Neuem. Denn der verstandeszugängliche Sinn erschliesst sich bei tieferen Gefühlslagen sowieso erst hernach, wenn sich die Wolken verzogen oder die Wellen geglättet haben. Wobei ich hier eher von dichtem grauen Nebel innen und unangenehm übersensibler Wahrnehmung nach aussen sprechen würde.
Ich nenne diesen Zustand lieber Schwermut als Depression, weil ich mich so eher dem gesuchten Wert nähern kann. Depression, zusammengestzt aus De und Pression, ist nach meinem Verständnis eher ein Hinweis auf den Mechanismus, der diese Stimmung wahrnehmbar macht, doch bietet keinen Ansatzpunkt für einen Annäherung an dessen Sinn. Schwermut hingegen lässt mit dem Wort schwer eine sinnliche Relevanz entstehen und mit Mut die Fähigkeit, die vonnöten wäre, die Schwere zu überwinden.
Schwere impliziert auch Tiefe, da die Schwerkraft auf unserem Planeten die Kraft ist, die uns immer wieder auf den materiellen Boden der Tatsachen oder gar darunter zieht. Damit steht das Gefühl im Widerpart zu den Kräften, die uns zwar erhebend erscheinen, doch auch in Folge, bei Erfolg verführen können, die Bodenhaftung zu verlieren. Oberflächlichkeit und Luftschlösser oder gar Sucht sind die Synonyme für die damit verbundenen Gefahren.
Leichtsinn ist in diesem Falle ein Wort für die unbedachte Vorbereitung schlimmer Erfahrungen mit ernsten und langwierigen Konsequenzen.

Woher auch immer die Schwermut herrührt, ob sie ein rythmisches Geschehen und damit ein natürlicher wechselnder Vorgang des normalen Lebenslaufes ist, oder ob sie mit verdrängten Impulsen, Aufgaben oder in der Vergangenheit erlernten Mustern aufgrund von Leid oder Traumata zusammenhängt, der verstandesmäßige Umgang damit ist nur selten befriedigend. Es ist bei ihr, wie bei allen anderen Gefühlen auch. Wahrnehmen und Respektieren sind die erste Voraussetzung für eine positive Veränderung.
Das kann in einem Falle bedeuten, dass ich dem Bedürfnis nach Rückzug nachgebe und damit die Chance erhalte, in dieser Zurückgezogenheit eher den kleinen Impuls zu bemerken, der mir bedeutet, jetzt Mut zu zeigen und mein momentanes Bedürfnis zu kommunizieren oder selbst dessen Befriedigung in Angriff zu nehmen. Beides verlangt bei der Schwere des Ursprungs eine ungewohnte Menge Mut. Damit wird der Bedeutung des Wortes buchstäblich Rechnung getragen.

Was mich angeht, habe ich bemerkt, dass mir nach dem mutigen Schritt die vorangegangene Schwere und Dramatik meist viel harmloser, die vermeintlich schwere Tat und die Folgen viel leichter vorkommen, als sie vor der Entscheidung schienen. Die Wand von vorher wirkt plötzlich wie eine niedrige Bordsteinkante, die ich eigentlich schon längst hätte überschreiten können. Ich habe es nur noch nicht wahrgenommen.
Auch die Leichtigkeit, die ich nun angesichts der veränderten Lage empfinde und die sich in allen vorher eher betäubten Sinnen wieder lebendig zeigt, weist auf eine andere, sinnigere Bedeutung des Begriffs Leichtsinn hin. Die ansonsten negative Bedeutung des Wortes rührt zum grossen Teil, von den eigenen aufgeblasenen Ängsten und denen der Umgebung her. Bei unseren Mitmenschen ist die nach innen führende und wegweisende Schwermut meist durch Aktivismus und Reizüberflutung gedeckelt. Je länger, desto größer der entstehende Druck. Je stärker die Angst vor dem Kontrollverlust oder dem drohenden Absturz, desto vehementer die Abwehrmechanismen. Wer das spürt, lädt sich zur eigenen Schwermut noch die begründete Furcht vor Ablehnung und das Gefühl von Einsamkeit auf.
Etwas leichtsinniger wird Mensch erst wieder, wenn es reicht. Hier ist Trotz der Retter aus der Not. Trotzdem etwas tun, obwohl es negative Folgen haben könnte, hilft die Energien freisetzen, die dem Mut bislang gefehlt haben. Derart getunt, kann die Aktion auch leicht übers Ziel hinausschiessen. Wegen der damit einhergehenden Schäden erhält das positve Wort Leichtsinn seinen negative Beigeschmack.

Vermeidet Mensch vorsorglich durch Annehmen der Schwermut und mutigem Eingehen auf die aus seinem Inneren kommenden Impulse den letzten Auswegs Trotz, kann Leichtsinn seine ursprüngliche Bedeutung und den Wert für ein sinnliches, sinnerfülltes Leben behalten.

Dass dies im Laufe des Lebens wieder und wieder eine völlig neue Herausforderung ist, ich mir x-mal von Neuem ein Herz fassen muss, kann natürlich genauso schwermütig machen. Doch ich erinnere immer etwas eher daran, wie es sich anfühlt, wenn ich den Prozess durchlitten und durchschritten habe. Es ist, als ob ich mir selbst zuschauen kann. Dass ich von Mal zu Mal geduldiger mit mir werde, beginnt wirklich langsam zu helfen.
Machmal kann ich schon mittendrin über mich lächeln.
Kurzstory dazu...
Träge flossen die Tage dahin. Fritz the Cat hatte schon seit Wochen keine Lust mehr, die Erwartungen seiner Fans zu erfüllen. Sollten sie doch selbst ihre Derbtheiten, ihre Wollust und Völlerei ausleben und auslöffeln. Die struppigen Muschis, die er mit seiner Masche bisher flachgelegt hatte, langweilten ihn genauso, wie das hirnlose Grinsen seiner Zuschauer, die nicht bemerkten, dass er sie nicht einmal als Futter in seinen Napf liesse. Höchstens als Streu ins Katzenklo. Irgendwie machte so nicht einmal mehr das Fiessein Laune. Oder das Fressen. Selbst das Liegen und Räkeln, war nicht mehr das, was es einmal war. Die Mäuse in seinen Täumen begannen ihn schon auszulachen, ihm auf der Nase herumzutanzen und ihn an den Schnurrbarthaaren zu ziehen.
Vielleicht sollte er, an frühere Zeiten anknüpfend, einmal wieder für ein paar Wochen verschwinden. Da hatte es zwar keine vollen Näpfe gegeben aber dafür herrliche Abenteuer.
Richtige!
Mit schmerzhaften Blessuren und hungrigen Tagen, aber mit jeder Menge Adrenalin und wilden Muschis, die ihm versuchten schon vorher die Augen auszukratzen. Ob er das heute noch schaffen würde? Jeder kleine Pinscher konnte ihn mittlerweile einholen, bevor er die Zäune und Bäume erreichte, die er sowieso nicht mehr hinauf kam.
Fritz seufzte. Also doch schön liegenbleiben und weitermästen.

Als er das nächste Mal erwachte und ein Lid hob, sah er durch die Balkontüre die offene Heckklappe des Idioten von Nachbarn. Koffer, Badematten und Schwimmflossen konnte er erkennen. Die fuhren in Urlaub. Klar. Meer und Strand. Wie jedes Jahr. Und hinterher zeigten sie sich dann wieder der versammelten Nachbarschaft auf unzähligen nichtsagenden Dias. Frau Hängetitte unterm Sonnenschirm, Wasser und Wellen, Sohnemann Sommerspross Zahnlück mit Taucherbrille und Flossen, Teenitochter Waschbrett Zahnspange Nagellack mit pseudocooler Sonnenbrille und zu guter letzt Papa Hofbräugeschwür in Stringtanga und Muscleshirt. Fritz gähnte. Menschen waren ja soooo hässlich, furchtbar einfältig und berechenbar.
Plötzlich zuckte sein Schwanz und die Barthaare zitterten. Letztes Jahr gab es ein Bild mit einer getigerten Katzendame unter dem Campingtisch. Wenn er es genau bedachte - wie vorletzes Jahr und das Jahr davor war sie an der Hecke beim Kinderspielplatz zu sehen gewesen. Eigentlich.....
Schlagartig war er auf den Beinen. Von Müdigkeit nichts mehr zu spüren. Noch war die Hecktüre offen. Hinter den Reisetaschen findet sich garantiert noch ein Plätzchen für ihn. Zwei Tage würde er es ohne Fressen schon aushalten. Danach etwas schlanker, würde er es mit den Katern dort locker wieder aufnehmen. Und wenn die graue Tigerin nicht mehr da ist, gibt es sicher noch andere schöne Töchter von fleissigen Katern.
Obwohl es warm und angenehm weich zwischen den Taschen ist und Frau Nachbarin die Lebensmittel für die Campingküche leichtsinnigerweise nur in Plastiktüten verpackt hat, schläft er während der Fahrt fast nicht und verspürt nicht den kleinsten Appetit auf der Reise. Seine einzige Sorge ist, wie er unbemerkt wieder aus seinem Versteck herauskommt, bevor es die Menschen.....
Aber halt. Fritz grinst. Natürlich sollen sie ihn bemerken. Dann fahren sie sicher nicht ohne ihn wieder zurück. Zumindest, wenn er dann noch zurück will!
Frage
Hallo *olove*,

danke für die hirnige Autobahn hinein ins Gemüt. Hat gerade gut gepasst zu lesen.

Wäre es ok, wenn ich diesen Text kopiere und meinen Verwandten (teilweise) schicke - erinnert mit sehr an die Sorgen, die uns unsere Großmutter durch ihre Demenz und mir durch ihre Medikamente bereitet. Wäre also eventuell im doppelten Sinne hilfreich. Für die Verwandten selbst, und für den Umgang mit unserer "Omi"!?

• Happy Eggeristis * - in every case!

Gruß Markus
Lieber Olove,
danke für das Traktat zur Schwermut - spricht mir in Vielem aus Kopf und Herz!
Ich nehme mir auch gerade eine solche Auszeit: habe Familienfest gecancelt, kein fröhlich grinsendes Kinder-beim-Nest-suchen-Betrachten, kein viel-zu-viel-bei-langen-Essen-Futtern, kein endlos leicht-fertiges Blabla...
allein daheim im Schnee, zwischen diversen Passionen driften: Bach, Texte, Schlafen, Nachdenken, Vorfühlen, genau Hinschauen oder Fernsehen... ganz bei mir und allen Facetten, die das bietet.
Das Schwere gehört zu unserem Sein/Leben und gehört Mut dazu, sich dem zu stellen. Manchmal schiebt man es leicht vom Tisch und sagt: nicht jetzt! Dann kann man auf ihm tanzen.
Manchmal ist der Brocken zu groß und sagt: schau mal genau hin. Dann begibt man sich auf Vorschungsreise.
Das macht den reflektierten Menschen aus, meine ich.

Mit der Geschichte dazu kann ich nicht so viel anfangen...
*g*
Lieber Olaf . . .
frohe Osterreise
----
Mir geht es ähnlich - -
keine Familie - - alles abgesagt - nur ausatmen - zu sich selber kommen -
die Sonne - die Stille - auch den Regen und die Natur genießen - -
keine Zeitung - kein TV - selten den PC -
nur im Radio bestimmte Sendungen - ansonsten die Vögel beobachten - und in sich selber hineinfühlen - -
Kraft schöpfen für den Rest des Lebens der mir noch bleibt - - -

eine gute Osterzeit mit viel Sonne im Herzen
wünscht Ev
Olaf
...da hast Du was angesprochen...

ich mußte mir einfach auch dazu meine Gedanken machen, denn natürlich kenne ich diesen Zustand auch sehr gut.

Zur Schwermut

Wenn ich lebe ohne philosophisch zu denken (mir also nicht nur um die Nahrungsbeschaffung Sorgen mache), dann bewege ich mich in so etwas wie den „Ewigen Jagdgründen“.
Selten gewordenen Urwaldstämmen ist dieser Zustand als „Immerwährende Gegenwart“ bekannt.

Sobald ich anfange wirklich zu denken, registriere ich etwas, das sich unangenehm auf meine Psyche (nicht Seele) auswirken kann: die Zeit!
Ich betrachte mein Vergehen = Altern mit gemischten Gefühlen und beginne wie in einer Wasserrutsche abzustürzen.
Hauptsächlich erkenne ich, daß es sinnlos ist, sich irgendwo festzuhalten. Alles ist glitschig. Ich kann mich nur fügen!

Aber die Anziehungskraft der Zukunft bewirkt eine Schwere, der ich mich ebenfalls nicht entziehen kann…
Für mich selbst versuche ich Zeichen zu setzen auf denen steht „du hast dich nicht umsonst bemüht“. Aber wie geht das?
Einen Baum pflanzen, ein Buch schreiben, ein Haus bauen, einen Sohn zeugen?
Ha! – Angenommen, das würde jedem von uns gelingen – was wäre dann?

Wir würden erkennen, daß es für uns keine „Immerwährende Gegenwart“ gibt, daß wir vergehen, egal was wir je getan haben, daß alle unsere Vorhaben und Vorgaben nur Krücken zur Lebensbewältigung sind. Und etwas in uns erinnert sich immer an das/ den, der er einmal war.

Dann empfinden wir unsere Füße als bleiern, dann fragen wir uns unwillkürlich warum etwas ist wenn es doch einmal wieder nicht ist. Sämtliche Traumata unerwünscht erlebter Ereignisse stürmen im Zuge dieser Erkenntnis auf uns ein…

Dann ist der persönliche Karfreitag!
Ob die ersehnte Auferstehung irgendwann erfolgt ist eine Frage unserer inneren Einstellung. Wir raffen uns – solange wir nur können – immer wieder auf. Ein Thomas aber, bleibt immer in uns präsent: die sich in lebendigen Rhythmen zeigende (philosophische) Schwermut.

(c) Sur_real

Gruß
Alf
dazu vielleicht
ein Bild?
Meditation
Danke füt die
völlig unterschiedlichen Reaktionen! *smile*

@****ing hand
Klaro darfst Du! Es freut mich überaus , wenn meine Gedanken auch zu etwas Konkretem nütze sind.

@ Cleo
Du hast es schöner ausgedrückt in deinem Kommentar, als ich es mit meinem eher analytischen Worten konnte! Die Fritz-Story ist nur ein Versuch, soch einen Zustand und das Auftauchen daraus kurz zu skizzieren.

@ Zigeunerin
Für Jeden ist es wohl der Rest des Lebens. Es wird uns mit fortschreitendem Alter nur bewusster und die Ablenkungsmanöver schaler. Ich bin froh darüber und finde es nur schade, dass mir das nicht schon viel früher aufgefallen ist.

@****eal
Meine Befreiung, in welchem Sinn auch immer, klappt nur, wenn ich das Jetzt respektiere und die Schwermut nicht länger mit Vergangenem verknüpfe. Sonst mache ich diese zur Gegenwart und missachte alles was ich danach Anderes erfahren durfte. Allerdings gebe ich zu, dass mir das auch immer zu Anfang solch einer Phase passiert. Zum Glück ist meine Phantasie nicht kontrollierbar, auch nicht von rigidesten Selbstboykottmustern. Das beschleunigt und ist mir Garant, auch ohne Selbstdisziplin und Psychtricks aus dem Loch zu kommen. So darf ich Alles, außer Zwang.
Verzeih den Ausdruck, aber dein Bild ist hammergeil!

Wer von Euch außer mir ein anderes unerwünschtes Gefühl zerlegen und mit neuem potenterem Sinn wieder zusammensetzen will, darf das gerne in Wort und Bild hier tun!
Von der Bitterkeit
lieber olove, dann nehme ich dich mal beim Wort und schreibe über ein Gefühl, dem man sich kaum erwehren kann - trotzdem man weiß, dass es zu nichts führt(außer zu Schlechtem). *g*

Schon immer hatte die Alte in unserem Dorf gelebt. Wir Kinder hatten sie gemieden, da sie uns bestenfalls beschimpfte, oft aber sogar mit Unrat oder Steinen nach uns warf.
Später wurden wir kühner und schimpften zurück, oder spielten ihr derbe Streiche. So mutig waren wir Kinder aber nur als Schar – ein jeder allein fürchtete ihre Bosheit.
Eines Abends sah meine Mutter, dass in unserem Krug kein Wasser mehr war und schickte mich vor dem Abendbrot noch schnell zum Brunnen. Ich lief eilig, denn ich hatte Hunger.
Als ich schon fast am Brunnen war, stockte ich im Lauf. Am Brunnenrand kauerte eine dunkle Gestalt. Wer mochte so spät noch unterwegs sein?
Vorsichtig schlich ich mich näher und hörte bitterliches Schluchzen.
Da sagte ich mir, dass das Böse niemals weint, und alles was weint, ein Herz haben musste – und ging mutig zum Brunnen hin.
Da erkannte ich die böse Alte – und auch sie sah mich kurz an, bevor sie das schwarze Tuch um ihre Schultern vor ihr Gesicht schlug.
„Hau ab, Bengel!“ zischte sie durch ihre Zähne.
„Ich muss aber Wasser holen, für unser Abendbrot...“ wagte ich zu sagen und griff zitternd zum Eimer, um ihn hinabzusenken.
Zu meinem Erstaunen schwieg sie und ich füllte schnell meinen Krug.
Als er voll war, zögerte ich, denn das Elend, das ich durch die Stille und Dämmerung fühlen konnte, dauerte mich.
„Warum stehst du hier am Brunnen, in der aufziehenden Nacht, und weinst?“ fragte ich in meiner kindlichen Neugier.
„Was geht dich das an, du Lausejunge. Kann eine einsame, alte Frau nicht tun, was ihr beliebt, zu jeder Stunde? Als ob es einen interessierte, was ich tu... oder ob ich eines Tages in den Brunnen springe.“
Wieder war ein Schluchzen zu hören.
Ich musste weiterfragen, obwohl ich an die wartenden Eltern dachte.
„Warum solltest du denn in den Brunnen springen wollen?“
„Weil ich sterben will, du Rotzlöffel. Da das Leben schon nicht gut zu mir war, so ist es vielleicht der Tod.“
Ich setzte meinen Krug auf die Erde.
„Was hat dir denn das Leben angetan? Hast du nicht ein Haus, einen Garten, Ziegen und Hühner? Fehlt es dir an Brot oder Holz für den Ofen?“
„Schau, wie schlau der kleine Neunmalklug daher spricht,“ wetterte die Alte und schlug das Tuch zurück. Mit funkelnden Augen sah sie mich an, und mir wurde ein wenig bang.
„Du willst wissen, wie das Leben mit mir verfuhr? So höre:
Einst war ich schön, und fröhlich und fleißig. Jeder mochte mich im Dorf.
Eines Tages fand ich einen lieben Mann, der mich heiratete. Unser Glück war vollkommen, nachdem wir zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, bekamen. Lange Zeit waren die Tage voll Sonnenschein und Lachen, die Kinder wuchsen heran, wir arbeiteten hart und bauten ein Haus, in dem wir zufrieden leben konnten.
Doch dann wurde mein Mann krank und starb. Mein Sohn zog in die Fremde und schickt mir nur noch jedes Jahr eine Ziege durch einen Boten. Meine Tochter hat einen reichen Bauern geheiratet, und Mägde und Knechte in ihrem Haus. Sie braucht mich nicht und schämt sich ihrer alten, einfachen Mutter.
So ziehen sich nun die Jahre hin, kein Sonnenschein und kein Lachen ist mehr in meinem Haus. Das Dorf zeigt hinter meinem Rücken auf mich und nennt mich die böse Alte. Nichts ist geblieben von meinem Glück.
Noch nicht einmal dem Herrgott gefällt es, mich zu sich zu nehmen.
Zu nichts bin ich mehr nutze, und keiner will mich.“
Sie brach wieder in Schluchzen aus.
Ich nahm eilig meinen Krug und rannte nach Hause.
Meine Eltern fragten besorgt, wieso mein Ausflug so lange gedauert hatte und ich erzählte von meinem Gespräch am Brunnen.
Mutter und Vater sahen sich lange an und sagten nichts. Aber ich hörte sie noch lange in ihrer Kammer reden, als ich schon im Bett lag.
Ein paar Wochen verstrichen. Mir fiel auf, dass Mutter immer wieder mit einem zerlumpten Kind aus den Armenhäusern an unserem Haus vorbei ging und wenig später ohne das Kind zurückkehrte. Eines Tages schlich ich ihr nach.
Ihr Weg führte am Brunnen vorbei zum Garten der bösen Alten. Und wie staunte ich, als ich sah, dass dort vier, fünf Kinder im Garten waren. Eins flocht Blumen zu einem Kranz, ein anderes bürstete singend eine Ziege. Zwei saßen auf der Bank und löffelten Brei aus einem Kochtopf, und die Alte wiegte einen Säugling in ihren Armen. Kein böses Wort und keine Beschimpfung war zu hören. Ein seliges Lächeln war auf dem Gesicht der Alten. Während sie das Gartentor öffnete, hörte ich Mutter sagen:
„So, da bringe ich dir Gertrud, alte Mutter. Auch sie ist hungrig... und vielleicht hast du auch noch ein warmes Jäckchen für sie?“
Ich wartete, bis Mutter wieder nach Hause ging und sprang an ihre Seite.
„Mutter, was hast du getan? Wieso pflegt die böse Alte jetzt die Kinder, anstatt sie zu beschimpfen und zu verjagen, wie sie es mit uns getan hat?“
„Ich habe den Fluss des Lebens nur wieder ein wenig zu ihr umgeleitet – der hat all ihre Bitterkeit weggespült, sodass nun das gute Mutterherz wieder schlagen kann. Das hätte ich längst tun sollen – wie gut, dass du mir von ihrem Leid erzählt hast.“
Sie nahm mich fest bei der Hand und wir liefen lachend nach Hause.

©tangocleo 2012
Ehrfurcht!!!
Göttlich, deine Geschichte - dein Schreibstil haut mich jedesmal vom Hocker.

Was die andere Seite der Bitterkeit angeht, werde ich mir Gedanken machen ... *zwinker*
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