Lauf der Zeit
Eben noch lagen wir uns in den Armen, eben noch waren wir Teil einer Unendlichkeit, die uns jedes Mal wieder umhüllt, wenn wir zusammen sind. Der Duft unserer Leidenschaft schwingt durch meine Räume, doch die Stille ist für mich fast unerträglich. Deine Worte, der Klang Deiner Stimme liegt noch in meinen Ohren, beides dringt tief in mich ein. Und doch kann ich es nicht greifen, ich spüre, wie ich mich in mir verliere. Du bist gegangen, musstest gehen – wie immer – der Lauf der Zeit.
Ich versuche die Gewalt der aufgewühlten Emotionen in mir zu beherrschen indem ich durch die Stadt laufe, mit lauter Musik im Ohr, die wohl so Manchem Gänsehaut über den Körper gejagt hätte. Laut und hart. Doch diesmal funktioniert es nicht. Sie bleibt auf meiner Haut liegen, sie berührt mich nicht dort, wo ich berührt werden möchte. Ich suche wie in Trance ein Stück aus, das mich jedes Mal wieder bewegt.
Es beginnt, und schon die ersten Klänge schnüren meine Kehle zu. Ich spüre das heiße Gefühl aufsteigender Tränen, die aus mir drängen. Wollen ein Übermaß zum Überlaufen bringen.
Ja, das ist es – es muss raus. Doch nicht hier. Unter all den Menschen. Ich eile nach Hause, doch nun funktioniert es nicht mehr. Verpasst - den Moment an dem es hätte sein sollen – der Lauf der Zeit.
Wo ist es eigentlich hin, das wundervolle Gefühl, damals als Kind? Nicht immer war es da, doch diese Unbeschwertheit, diese Leichtigkeit – alles scheint verschwunden, im Lauf der Zeit.
Ernsthaftigkeit, Verpflichtungen, Sorgen, Ängste – all dies scheint sich anzusammeln in einer Seele, je älter sie wird. Überdeckt werden die Erinnerungen von damals, als alles möglich und so einfach erschien. Ich könnte doch auf sie zurückgreifen, sie bestehen doch noch in meinem Kopf. Doch so vieles überlagert sie, Erinnerungen, Verletzungen, Erlebnisse im Lauf der Zeit.
Ich bin das Produkt all dieser Dinge, auf die ich zurückblicken kann, egal ob sie mir gefallen oder nicht. Doch was liegt vor mir? Die Erfahrung flüstert mir ein, es wird so weitergehen wie bisher, das Leben ist so, wie es ist. Es tut mehr weh, als dass es das Schöne bereit stellt. Ich spüre Trauer, denn wenn es so ist, dann lagert sich auch dies erneut über den winzigen Teil der schönen Erinnerungen.
Warum nicht neue schaffen? Sich selbst glücklich machen?
Wie? Mit dem Wissen, wie das Leben wirklich ist? Ohne die Naivität der Kindheit? Abgewaschen scheint der Schutzpanzer des Glücks – im Lauf der Zeit.
Manchmal möchte ich lieber vergessen, als dass ich mich an etwas erinnere, denn meist läuft das Rad der Erinnerungen konsequent rückwärts in der Zeit. Immer zuerst zurück über das jüngste, dabei das Durchleben, das Durchfühlen des Erlebten. Wenn dann das Ziel erreicht ist, die Erinnerungen an Glück, ist schon so viel des Fühlens dahingeflossen in Trauer, dass kaum mehr etwas übrig ist, das Schöne erneut zu fühlen - im Lauf der Zeit.
Überspringen? Die Erfahrungen der jüngeren Zeit? Sich hinbegeben auf direktem Wege zum Glück? Nein – das rückwärtige Glück ist vorbei. Eingeschlossen nur noch in Erinnerungen, greifbar nur noch durch Gedanken, es lässt sich nicht in die Gegenwart oder Zukunft transportieren. Da scheint es eigen zu sein. Es will neu geschaffen werden, es will neu konstruiert sein für das Jetzt, es ändert sich, sein Wert, seine Beschaffenheit – im Lauf der Zeit.
Der Lauf der Zeit. Nicht greifbar, nicht sichtbar, unaufhaltbar.
Sichtbar, fühlbar nur an den Dingen, die uns umgeben, nie das Abstrakte selbst. Sie hinterlässt ihre Spuren in uns, auf uns, bestimmt das weitere Empfinden.
Ihre quälende Zähigkeit wird genährt von brennender Sehnsucht, ungeduldigem Warten, um dann in Momenten gefühlten Glückes an Tempo vorzulegen, um so schnell wie möglich zu vergehen. Zeitlupe und Zeitraffer im Auf und Ab einer Achterbahn.
Die Achterbahn des Lebens und Fühlens, auf der ich im vordersten Wagen sitze, manchmal vor Ekstase lachend schreie oder panisch in meinen Ängsten brülle.
Der Lauf der Zeit, ein strömender Fluss, je nach Situation schneller oder langsamer dahineilend, doch ganz sicher wird er uns nie entlassen. Stromsschnellen lassen uns umherwirbeln, untergehen, heftig nach Luft schnappen, zappelnd und strampelnd versuchen wir über Wasser zu bleiben, dann wieder treibt er uns weiter, an sanfte, ruhige Ufer, kräuselnde, kleine Wellen, die zu keiner Schandtat bereit sein könnten. Trügerisch und doch wahr.
In dieser tosenden Einbahnstraße treibe ich dahin, zum nächsten Moment, in dem ich mich wieder unendlich fühlen darf. In seinen Armen, in selbstgeschaffener Ewigkeit, aus denen selbst der wütendste Strom mich nicht entreißen kann.
Wenige Augenblicke, geliehenes Glück, entrissen dem Lauf der Zeit.
© Lys 4/12