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Der Formensammler

Der Formensammler
An der Elbemündung bei Glück im Winkel. Meine Lieblingswiese zum Wolkenbestaunen und Klönen mit mir selber, wenn ich mal Zeit habe. Das ist selten genug.
Der Blick öffnet sich zur Nordsee. Da hat man irgendwie das Gefühl, man könne über die lang schwingenden Wellen bis hin zu den Steilküsten von Helgoland, Schottland und Dover und auch noch weiter bis zu den Inseln der Karibik, Kuba, Rio de Janeiro, New York und Florida sehen. Da ist nichts dazwischen, als Wasser und Wind.

Wenn mal die Erde nicht krumm wäre, dann könnte man das alles auf einmal sehen.
Aber die Erde ist nun mal nicht flach wie eine Scheibe, und das ist auch gut so, weil das so nahe an der Freiheit des Denkens ist. Man kann fahren, in welche Richtung auch immer, man kommt jedes Mal wieder zu sich selbst zurück.
Doch dann ist man nicht mehr derselbe Mensch. Dann hat man was erlebt.

Am Himmel spielt der Wind mit den Wolken Kino in meinem Kopf. Aus dem dicken Elefanten, der da eben noch war, ist eine Schar Delfine entstanden.
Die liegende Frau dahinter hat sich in eine Giraffe verwandelt und das Segelschiff ist jetzt ein Fesselballon.
Obwohl alles sich ständig am Verändern ist, hat man nie das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Das Spiel der Formen ist unendlich vielfältig, aber es wiederholt sich nie.
Jeder Augenblick ist einmalig. Jede Form lässt neue Gedanken entstehen.

Unten am Ufer der Elbe zieht ein alter Mann einen kleinen Bollerwagen mit kleinen dicken Ballonreifen hinter sich her. Er trägt Schiffermütze, Schlapperhosen und eine ziemlich alte, abgetragene blaue Marinejacke. Aus dem Schlick, den die beginnende Ebbe frei legt, sammelt er Holzstücke und hin und wieder auch Steine auf.
Steine? Wozu braucht er die? Schwemmholz mag ja gut zum Verfeuern sein, in seiner Kate, aber Steine?
Ich sehe genauer hin, nur so, aus Interesse.
Den großen Balken da am Ufer lässt er achtlos liegen. Warum denn das?
Die quadratische, kurze dicke Bohle hätte doch gut auf seinen Bollerwagen gepasst und ordentlich Wärme gibt die bestimmt auch. Ob ich ihm einfach helfe, sie aufzuladen?

Ich schlendere mal so eben wie zufällig zu ihm hin.
„Kann ich Ihnen helfen, Käpt’n? Vielleicht kriegen wir ja zu zweit Ihren Bollerwagen schneller voll.“ Dabei habe ich schon das Balkenstück an einem Ende leicht angehoben.
Es ist gar nicht sehr schwer, weil die Sonne es ausgetrocknet hat.

„Nee, latt mol min Deern. Dat Dingens da, dat is langens dod. Ich sammele nur lebende Stücke“ sagt er und zeigt mir die vom Wasser abgeschliffene bizarre Wurzel, die er in der Hand hält. Er lächelt mit zusammengekniffenen Augen in seinem von Wetter und Wind gegerbten Gesicht mit dem grauen Rauschebart unter dem Mützenschirm hervor.

„Lebende Stücke? Die Wurzel da? Wo sehen Sie denn da Leben drin? Meinen Sie etwa die Muscheln und Bohrwürmer im Holz?“

„Kannst Hannes zu mir sagen, wenn du willst. Hans Kröger mein Name, bin Bildhauer und Maler. Ich sammle hier kein Brennholz, ich sammele Formen, die eine Gestalt haben, Dinge mit Leben drin. Dinge die zu mir sprechen, aus denen ich das Leben wieder herausarbeiten kann, damit es dann jeder erkennt, wenn er Augen im Kopf hat. Die Natur gibt den Dingen ihre Form nie ohne einen Sinn, weißt du. Auch die Steine sind nicht alle einfach rund, sondern haben viele Formen. Jede Form hat einen besonderen Sinn. Das Blatt am Baum, der Körper des Delphins, dein Körper, mein Körper, deine Hände, meine Hände, und manchmal nehmen die Dinge auch dann wieder neue Formen an, wenn sie ihren eigentliche Zweck schon lange verloren haben, so, wie diese Wurzel hier…“

„Und daraus machen Sie dann Segelschiffchen, Leuchttürme, Heuler, Aschenbecher, Anker und so was, für die Touristen?“

Auf einmal ist das Lächeln in seinem Gesicht eingefroren und Skepsis zeigt sich in seinen Augen. Ich registriere auch selbst im Nachgang die Peinlichkeit meiner läppischen Frage.
Aber für eine Entschuldigung ist es zu spät. Er ist schon am Antworten.
Was ist das denn? Was er da sagt, verursacht mir ein Kribbeln auf der Kopfhaut.

„Ich sehe darin ein Fohlen, das sich gerade aus liegender Stellung auf die Beine stellt, gleich nach der Geburt, die ersten Schritte ins Leben. Siehst du, wie es die Vorderbeine aufstemmt?
Aber lassen wir das einmal beiseite, Sabine. Das, was du da eben gesagt hast, das war sehr, sehr weit unter deinem Niveau. Das hätte ich dir niemals zugetraut.“

„Wie, was? Woher willst du denn wissen, was mein Niveau ist, und woher weißt du meinen Vornamen? Ja, ich finde es auch peinlich! Entschuldige bitte die blöde Frage, Hannes, o.k.?“

„Was dein Name ist, der steht doch da oben an deiner Mütze und ist auch auf dem Kragen deiner Bluse eingestickt. Das kann doch wohl kein Zufall sein.
Was dein Niveau ist, deine Persönlichkeit, das verraten mir deine Formen, deine Kleidung und die Art, wie du etwas tust und wie du sprichst.“

„Nee, nüch? Meine Formen verraten dir meine Persönlichkeit? Wie aber das denn jetzt?
Das will ich nun ganz genau wissen. Erklärst du es mir, Hannes?
Ich meine…, das, was du darin angeblich siehst.“

„Gut, wenn du es unbedingt willst, Sabine, fangen wir eben bei den Formen an.
Deine Gestalt, dein Körper und dein Gesicht sind so beschaffen, dass du dich eigentlich vor Verehrern nicht retten können solltest. Wärest du aber schon den Ersten davon erlegen, dann wärest du in diesem, deinem Alter längst vom Leben gezeichnet und verblüht.
Davon kann bei dir aber wirklich nicht die Rede sein…“

„Oh, danke!“

„Keine Ursache, nicht mein Verdienst.
Du stellst Ansprüche an geistige Beweglichkeit und Intelligenz, ziemlich hohe sogar. Da kann nicht jeder mithalten und die Meisten versuchen es auch gar nicht erst…“

„Stimmt, Hannes, aber wie kommst du denn darauf?“

„Das hat mir dein Leibwächter gesagt.“

„Och komm, ja! Bleibe bitte ernsthaft, ich will das nämlich jetzt wirklich wissen.“

„Ich bin ernsthaft, Sabine. Deine Leibwächter, das sind die zwei kleinen Skepsisfältchen neben deiner Nasenwurzel, da an der Stirn und die leicht tiefer gelegten Mundwinkel.
Jeder Dummdödel, der einfach nur auf shoot and forget aus ist, wird davon sofort durch seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe ausgebremst. Da fürchtet er Überforderung, wenn er es überhaupt definieren kann…Dir ein Lächeln zu entlocken, das am nächsten Tag noch von selbst wiederkommt, das könnte manchmal schon schwieriger sein, als die sieben Rätsel der Sphinx zu lösen, oder?“

„Du kannst gut auf Glatteis, lieber Hannes“, sage ich, aber innerlich muss ich schmunzeln.
Ich weiß um das Problem. Ich kann gut damit leben.

„Weißt du, jede schöne und intelligente Frau, die ich kenne, hat irgendwo gut sichtbar so einen kleinen Bodyguard. Ach, und übrigens: wenn du nur einfach schön und doof wärest, dann hättest du dich sicher nicht für meine Wurzeln interessiert und schon gar nicht wärest du auf die Idee gekommen, mir beim Aufsammeln zu helfen, stimmts?“

„Stimmt, Hannes. Ach übrigens: Ich interessiere mich schon lange für Formen. Für Wolkenformen nämlich, nur passen die leider nicht in deinen Bollerwagen.
Darf ich mal eben…?“

„Was willst du denn dürfen, Sabine?“

„Dir einen Kuss auf deinen Rauschebart geben, oller Hannes.“

„Aber nur, wenn du dabei lächelst, min Deern.“
*********uptas Mann
452 Beiträge
Gefällt mir gut …
… der Formensammler!

Danke!
Klasse,
ich war mit den Beiden schon unterwegs...

ausdemherzengesprochen *top* laf
volatile
*******aum Frau
16.590 Beiträge
Ich fühle mich geschmeichelt und geehrt.

Eine interessante Erfahrung, jemanden so unmittelbar zu inspirieren.

*blume*
****e_a Frau
583 Beiträge
Eine sehr zarte Geschichte. Gern gelesen. Sinnlich und fein beobachtet. Da sprühen salzige Funken im Wind. Hat die Geschichte eine Fortsetzung?
Eine sehr zarte Geschichte. Gern gelesen. Sinnlich und fein beobachtet. Da sprühen salzige Funken im Wind. Hat die Geschichte eine Fortsetzung?

Danke euch allen
Wegen der Fortsetzung:

Sicherlich setzt sich ihr Leben fort.

Aber sein Bollerwagen passte nicht in ihren Ford Capri
Sie kriegten die Tür nicht zu
volatile
*******aum Frau
16.590 Beiträge
Tja... irgendwas ist ja immer... *g*
Profilbild
****ia Frau
22.263 Beiträge
Man kann fahren, in welche Richtung auch immer, man kommt jedes Mal wieder zu sich selbst zurück.
Doch dann ist man nicht mehr derselbe Mensch.

Diese Aussage gefällt mir außerordentlich gut!

Was mir auch gefallen hätte:
Direkt von Anfang an in die Ich-Erzählweise zu gehen.
Das würde intensiver wirken, als das ein wenig distanzierte "man".
@Rhabia
du weißt es doch schon aus einer anderen Diskussion:

Ich möchte immer lieber die allzu starke Selbstreflexion vermeiden.
Das machen doch schon fast alle anderen hier.
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Dann ist die Frage:
Schreibst zu zur Selbstreflexion oder um den Leser sich wirklich einfühlen zu lassen?

Weißt Du, ich habe mal vor langer Zeit eine Geschichte geschrieben über sexuelle Gewalt.
Über meinen Schreibstil kam kein Kommentar.
Aber mich schrieben Leute an, mit der Frage, wer der Kerl sei und ob sie ihn zu Brei schlagen sollten.
Also war die Geschichte wohl gut genug, um für wahr genommen zu werden.
wie auch sonst oft,
..habe ich mich in dieser Geschichte als Autor in der Ich-Form in eine Frau hinein versetzt, was ich immer wieder gerne auch tue. Ich sehe da nämlich im Gegensatz zu manch anderem keinen generellen Qualitätsunterschied im menschlichen Denken.

Aber sehr oft wird mir das von Frauen sehr übel genommen.
Es ist deshalb immer eine Gratwanderung
Profilbild
****ia Frau
22.263 Beiträge
Ist es das?

Ich kann das nicht nachvollziehen.

OK... die meisten meiner Geschichten sind so richtige "Frauengeschichten" mit "Frauenthemen".

Aber ich finde es nicht verwerflich, wenn ein Mann sich in eine Frauenrolle denkt oder umgekehrt.
volatile
*******aum Frau
16.590 Beiträge
In diesem besonderen Fall wurde es dem Autor nicht übel genommen.
Er hat sogar vorher um Erlaubnis gefragt. *g*
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