Was wirklich passiert, wenn man seinem Herzen nicht folgt
Der Tag, an dem es passiert, fängt wie jeder andere an. Ich esse gerade oder mache eine kurze Pause von der Arbeit, wenn sich plötzlich eine Idee in meinen Kopf schleicht. Ein großartiger Gedanke, etwas Wichtiges zu tun, oder etwas Verrücktes. Die Idee, an einen bestimmten Ort zu reisen oder jemandem etwas Bestimmtes zu sagen. Dann verdränge ich den Gedanken meist schnell wieder, wie ich es mit tausend anderen extravaganten Ideen getan habe und nehme mir vor, dass ich ihn am besten vergesse, weil es schließlich nur ein Traum ist. Noch habe ich ja nichts investiert, mein Herz hängt noch nicht daran fest. Also arbeite oder esse ich in Ruhe weiter und versuche, nicht mehr daran zu denken. Aber dann kommt er wieder, der Gedanke, immer wieder. Er setzt sich fest in meinem Kopf und seine Ausläufer schlängeln sich durch meine Hirnwindungen, zurren sich fest um mein Herz und mein Hirn.
Unabhängig davon, wie verrückt die Sache war - das kreative Projekt, das Geständnis, der Plan – sie setzt sich fest und lässt nicht mehr los.
Tage vergehen. Manchmal träume ich von den Möglichkeiten, die diese Idee mir zu eröffnen scheint, dann wieder will ich es verwerfen, weil ich mich in den Unmöglichkeiten der Umsetzung gefangen fühle. Jeden Tag versuche ich es los zu werden, oder mich abzulenken, mit mehr arbeiten, oder lesen, mit anderen Ideen, an die ich nicht dermaßen hoffnungslos mein Herz verschenke. Wenn das nicht funktioniert, ergebe ich mich ein wenig der entstandenen Sehnsucht und versuche plausible Wege zu finden, die Idee umzusetzen, ohne so viel zu riskieren, wie ich zuerst befürchtete.
Vielleicht kann ich in ein paar Jahren diese Reise machen, oder diesen anderen Job annehmen, wenn sich meine jetzige Situation geändert hat. Eventuell warte ich lieber, bis sich meine Finanzen wundersam bessern, bevor ich dieses Projekt aufgreife und künstlerisch tätig werde. Und das Geständnis, das ich dieser liebenswerten Person machen wollte? Warum nicht aufschreiben, statt es ihr ins Gesicht zu sagen, ist doch genauso gut?
Ich spinne, webe Netze, die mich auffangen sollen, und gratuliere mir selbst dazu, wie reif und überlegt ich die Sache handhabe, wie ich meine Optionen inventarisiere. Doch nach ein paar Wochen stelle ich fest, dass ich feststecke, und dass der einzige Weg, aus dem Dilemma heraus zu kommen, wohl auch der unmöglichste ist: meinem Herzen zu folgen.
Ich denke viel nach über diesen Spruch, dieses Klischee und was da wohl dran ist. Ich stellte fest, dass „dem Herzen folgen“, viel mehr Gewicht und Verantwortung beinhaltet, als die Glückwunschkarten meiner Freunde oder gutgemeinten Ratschläge meiner Mutter mir immer mit auf den Weg geben wollten. Ich bin jetzt erwachsen. Und heute heißt es nichts anderes, als das zu tun, wonach mein Körper und mein Geist sich sehnen, ungeachtet der möglichen Folgen. Ich könnte meinen Job verlieren, ich könnte meine Ersparnisse aufbrauchen, ich könnte ernsthaften Schaden durch diese geliebte Person erleiden.
Und dann bin ich vor der Entscheidung angelangt, an dem Ort, wo es gilt, den Mut aufzubringen und nicht aufzugeben. Der Adrenalinstoß, wenn ich den Entschluss fasse, pulsiert durch meinen Leib und ich brenne darauf, es meinen Freunden zu erzählen, und fürchte mich nicht mal mehr davor, es meiner Mutter zu erklären.
„Ich ziehe zu meinem Freund“ „Ich breche mein Studium ab“ „Ich nehme diesen Job im Ausland an“ „Ich sage dieser Person endlich, was ich für sie empfinde“ „Ich fange wieder an zu studieren“ „Ich mache mich selbstständig“ – alle werden sich mit mir freuen, alle werden stolz auf mich sein. Ich bin auf meinem Weg und die ganze Welt soll es erfahren.
Dann gefriert mir plötzlich das Blut in den Adern. Die Logistik, die mir gestern noch so klar vor Augen stand, ist auf einmal undeutlich, es scheint doch alles ein wenig komplizierter als ich dachte. Die Zweifel kriechen langsam in mir hoch und legen andere Schablonen über meine Augen, die mich vieles anders sehen lassen. Ich überzeuge mich einfacher, als ich jemals für möglich gedacht hätte, davon, dass es doch keine so gute Idee war und erlaube der Feigheit, verkleidet als Vernunft, an die Oberfläche zu brechen und alle schönen Träume zu überschwemmen. Ich überzeuge mich selbst, dass ich nicht aufgebe, es nur verschiebe, und dass das die richtige Entscheidung sei. Ich bin stolz auf meine Einsicht und Geduld.
Ich lasse es los, lasse es bleiben. Und die Aufregung der letzten Woche verschwindet, ich fühle mich entspannt. Zufrieden. Das Leben geht weiter. Ich denke nur selten, wenn ich allein bin, aus der Ferne an die Idee zurück.
Alles scheint in Ordnung zu sein. Doch dann kommt dieses komische Gefühl immer wieder in mir hoch, und wirft mich aus der Balance. Tief im Bauch rumort es wie ungewisse Blähungen. Erst kann ich es nicht zuordnen und ignoriere es wie eine Magenverstimmung. Ich atme tiefer, trinke Wasser und lebe mein Leben.
Aber es lässt mich nicht los, dieses tief verwurzelte Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wie ein unlösbarer Knoten, eine Verwirrung der Geradlinigkeit, die ich eigentlich anstrebe. Es macht mich unruhig und verspannt. Ich streite mich mit Freunden, reagiere unwirsch, wenn mich jemand fragt, wie es auf der Arbeit läuft, oder wohin ich in Urlaub fahre, oder ob ich irgendwas auf dem Herzen habe.
Mir wird klar, was es ist, was mich stört an diesen unschuldigen Fragen, die mich an die Idee denken lassen, meinen Job aufzugeben, mein Projekt aufzuziehen, meinem Traumpartner meine Liebe zu gestehen, umzuziehen – die Idee, die längst in die Schublade „Unerfülltes“, „Absurdes“ oder „Utopia“ abgeschoben wurde.
Jetzt gibt es nicht mehr viel, dass ich noch tun kann. Nur zwei Möglichkeiten stehen mir noch offen:
Ich kann einsehen, dass ich einen Fehler gemacht habe und mich blutig schlagen mit Vorwürfen und Schuldgefühlen, weil ich nicht zu mir stand. Ich kann es weiter ignorieren und da weitermachen, wo ich stand. Ich kann mir einreden, alles wird gut, es war nicht so wichtig. Doch Wochen, Monate, Jahre später habe ich noch nicht vergessen, wie es sich anfühlt, wenn ich mich selbst betrüge, wenn ich nicht auf mein Herz höre.
Oder ich tue es einfach doch. Und die Male, die mir das gelungen ist, fühlten sich großartig an. Und tun es jetzt noch. Davon will ich mehr.