Gibt es langweilige Liebe?
Manchmal fühle ich mich überfordert von all den Filmen und Büchern, den Gesprächen, den Philosophierereien und Stories über die Tausende von Arten, wie wir uns verlieben und wie Liebe zu Ende geht. Natürlich bin ich mit- und hingerissen, wenn ein romantischer Film in meinen Augen `echte` Gefühle rüberzubringen vermag, oder wenn ich mitten in einem Buch wissen will, ob die beiden sich jetzt kriegen. Natürlich verbringe ich lange Abende mit dem Trösten von Freundinnen mit Liebeskummer und selbstverständlich freue ich mich für jeden, dessen Augen leuchten, wenn er von seinem neuen Schwarm erzählt. Aber es ist immer das Gleiche, der Anfang und das Ende von Beziehungen, die Suche, das Finden, das Trennen und das erneute Suchen. Anstrengend. Und etwas fehlt.
Wenn ich spätnachmittags nach Hause komme, begrüßt mich oft meine Nachbarin, eine Dame von ungefähr Mitte Siebzig. Ich sage Dame, auch wenn sie oft diese grässlich grellfarbigen Freizeitanzüge trägt, wenn sie im Garten arbeitet, oder ich sie schon mal im zweiten Stock rufen hören kann, wenn sie die Hunde von ihrem Rasen verjagt. In meinen Augen ist es damenhaft, wie sie lächelt, und wie sie sich zu ihrem Mann auf die Bank vor dem Haus setzt und sein Knie tätschelt.
Er ist älter und gebrechlich, wahrscheinlich pflegt sie ihn, wie ihr Haus und ihren Garten. Er gehört dazu, ich sehe ihn aber nie irgendetwas tun, außer da zu sitzen. Mich durchfuhr schon öfter der Gedanke, sie müssen sich lieben, wenn ich sie so da sitzen sehe. Sie nicken mir lächelnd zu, wenn ich vorbeigehe. Und wenn ich mich zu ihnen umdrehe, fegt sie gerade einen Flusen von seinem Hemd oder nimmt er ihre Hand in seine auf seinem Schoß und seufzen sie gemeinsam in der Sonne.
Es wird so viel Wert gelegt – hier und überall in unserer Gesellschaft – auf das Kennenlernen des oder der `Richtigen`, auf die aufregenden ersten Male, auf die Momente, in denen die gewöhnlichsten Dinge erregend und spannend sind. Dann wiederum wird viel über das Absterben der Liebesbeziehung geredet, wenn schmerzhafte Trennungen viele hässliche, lose Enden hinterlassen, die behutsam gekittet werden müssen und Brüche nur langsam heilen.
Der Werdegang einer Liebe, von der wir oft hören, besteht aus wenigen Schritten:
Triff jemand Netten, schwärme, verliebe dich, aufregender Beginn, fantastische Zusammentreffen zweier Seelen, die sich gesucht und gefunden haben... und dann… schreckliche Fehltritte, Wut, Verletzungen und letztendlich das langsame Wiederauferstehen der gekränkten Selbstliebe. Und das seriell.
Dies sind die Dinge, für die wir zu leben scheinen, die unser gesamtes Erleben prägen, die unser Leben mit Energie und Leidenschaft füllen. Das stirbt nie aus. Sogar wenn wir leiden, jemandem nachtrauern, der uns mal liebte – wenigstens fühlen wir Etwas. Das lässt sich nicht bestreiten, wir sind in diesen Phasen lebendiger denn je. Von dem, was dazwischen liegt, erfährt die Umwelt viel weniger.
Die Art von Liebe, die andauert, und zu einem langsamen, entspannten Rhythmus im Leben wird, lässt einen vergessen, wie viel man fühlt, wie lebendig man gerade dann ist. Die Liebe, die ein vages Summen im Hintergrund wird, die Art, die uns sanft in den Schlaf wiegt, gibt einem nicht das Gefühl der durchdringenden Passion und wir vermissen die aufregenden Momente romantischer Liebe.
Dabei gibt es die dauerhafte Beziehung, das erkenne ich an meinen Nachbarn. Sie haben schon viel zusammen erlebt, doch heute ist jeder Tag gleich für sie. Sie kennen sich in und auswendig, und wollen und können gar nicht mehr ohne den anderen sein. Stellen auch sie sich die Frage, ob es noch etwas anderes gibt? Möchten auch sie mehr Abwechslung, Dramatik, neue Erfahrungen? Oder sind sie zufrieden mit dem Alltäglichen?
Wenn Leute meiner Generation die Liebe einmal gefunden haben, halten sie sie schnell für selbstverständlich. Wenn wir einmal zum Club derjenigen gehören, die alles mit jemandem teilen können, wenn wir mit jemandem zusammen sind, mit dem wir wir selbst sein können, wenn unser Leben mit dieser Person einfach und gut ist, finden wir unsere Ruhe und finden wir es dann schnell zu ruhig. Manchmal sind wir so versessen auf Spannung, Unsicherheit, Gefahr und Verlangen, dass wir anfangen danach zu suchen und Probleme erfinden, wo keine sein müssten.
Es ist, als ob unser Gehirn es einfach nicht kapieren will, dass etwas einfach funktionieren kann, und dass Glücklichsein nicht nur ein Luftschloss ist, dem wir auf ewig hinterher jagen, aber das wir niemals erreichen.
Wir hören nur selten von kleinen Gesten und Beweisen einer Liebe zwischen zwei Partnern, die keinerlei Hindernisse und problematische Wendungen erfährt. Es gibt nur wenige Filme oder Bücher über die Frau, die ihrem Mann jeden Morgen sein Brot und einen Kuss mit auf den Weg gibt. Oder von dem Mann, der jahrelang abends in einem Nebenjob arbeitet, um das Studium seiner Frau bezahlen zu können. Oder von dem Paar, das einander abends im Bett erzählt, wie ihr Tag war und wirklich zuhört. Sicher, manchmal ist es ein Teil einer Geschichte, aber sie wird bald von Konflikten durchpflügt, weil wir schließlich sehen wollen, dass etwas passiert. Das ist normal, wir wollen Unterhaltung und Spannung.
Aber ist es so schwer, auch den kleinen, glanzlosen Momenten Aufmerksamkeit zu schenken? Die Kleinigkeiten, die eine echte Beziehung ausmachen? Ich wünschte, ich würde öfter von den Partnerinnen hören, die für ihren Mann da sind, wenn er sie braucht, von der Frau, die ihr Mann schon so oft nackt gesehen hat, aber die er immer noch begehrt. Ich möchte hören von dem langfristigen Rausch der Sicherheit und des Vertrauens, von dem leisen Glühen, dass Liebende beseelt. Wenn wir es schaffen würden, nicht immer das Magische und Wertvolle nur in dem zu suchen, was außergewöhnlich ist, sondern darin, dass jemand eine Person einfach liebt, so wie sie ist, zu jeder Tageszeit, in jeder Lebenssituation. Wenn wir die Tatsache würdigen könnten, dass jemand für diese Person da ist, auch wenn es gerade schwierig ist, auch wenn die elektrisierende Neuheit des Ganzen nachgelassen hat.
Diese `langweilige` Liebe, wie wir sie oft sehen, ist nur so banal und familiär, wie wir es ihr erlauben, wie wir sie sehen wollen. Sich verlieben ist wundervoll. Und Trennungen können der Anfang etwas Neuem, Spannenden sein. Aber die Liebe, die dazwischen existierte, und die, die bestehen bleibt, ist so viel mächtiger mit einem Flüstern, als der Rest davon mit seinem Schreien.
Ich grüße meine Nachbarin, als ich aus dem Haus komme und drehe mich noch einmal um, um zuzusehen, wie sie ihrem Mann auf seiner Bank eine Decke übers Knie legt, sie sie fest zwischen ihn und den Sitz stopft und ihm einen Kuss auf die Wange gibt. Er lächelt und zieht sie neben sich, legt den Arm um ihre Schulter und sie legt ihren Kopf an seine Brust. Ich würde gern mehr von ihrer Geschichte erfahren, wie sie sich kennengelernt haben, ob es jemals andere gab, oder sie einander einzige Liebe waren. Ich möchte ihr Geheimnis ergründen, weil man davon nie etwas liest und keine Filme darüber gedreht werden. Sie stellen das `und sie lebten noch lange und glücklich` dar, mit dem die Geschichte meist endet. Und die zu langweilig sein soll, um mehr darüber zu hören.
Statt sie zu stören mit meiner Fragerei, nehme ich mir vor, heute Abend, wenn ich meinen Liebsten seh, einfach seine Hand zu halten, während er mir von seinem Tag erzählt und mir bewusst zu machen, wie schön es ist, dass wir uns haben. Und glücklich mit ihm zu sein, egal, ob wir wieder ein Wochenende zuhause verbringen, statt auszugehen, egal, ob wir zu müde sind, um großartigen, leidenschaftlichen Sex zu haben, egal, ob wir uns viel zu erzählen haben oder uns zum Lachen bringen können. Ich möchte einfach da sitzen mit ihm und spüren, dass Liebe zwischen uns ist. Still und leise und ohne besonderen Vorkommnisse.