Paparazzo und Mammale
Diskret brachte er sich in Stellung. Lehnte entspannt am Stamm der Trauerweide, deren Äste ihn halb verbargen und zog an seiner Pfeife. Das Moos unter seinen Füßen seufzte leise auf und legte sich schmatzend um seine Schuhe. „Kein raschelndes Laub, gut“. Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke. Er war ein Profi. Keiner von denen, die mit Dreibein und Riesentele auf Dächer stiegen, um einen flüchtigen Blick durch's Fenster zu erhaschen, um für verpixelte Unschärfen Unsummen zu verlangen. Teure Technik, aber kein Sinn für Stil. Mit einem von denen hatte er versucht zu reden. Er hielt den goldenen Schnitt für etwas zum Rauchen. Seitdem hatte er für diese jungen Kerle nur Verachtung über. Zärtlich strich er über das Gehäuse seiner Hasselblad. Ein gutes Foto brauchte Zeit, viel Zeit und den richtigen Augenblick. Sie würde ihn nicht bemerken. Und falls doch, dann würde sie ihn nicht beachten. So wie er da stand, schien er die Vögel zu beobachten oder das Wachsen der Gänseblümchen. Ein leises „trüdritri-eh“ erklang. Er schloss die Augen. Das musste eine Haubenlerche sein. Er wusste viel über Vögel. Vom Turm der Christuskirche schlug es Acht. Es würde nicht mehr lange dauern. Er prüfte die Belichtungszeit und steckte seine Pfeife weg.
Vom Turm der Christuskirche schlug es Acht. Sie strich sich ein letztes Mal durch's Haar, zog die Jacke an, griff sich ihre Sachen und verließ die Wohnung. Behutsam ging sie zum Aufzug, drückte den Knopf und wartete. Das vertraute Surren, ein Klacken und die Tür ging auf. „Guten Morgen“, sagte sie vergnügt. Trat ein, ohne sich über die fehlende Antwort zu wundern. Drückte den Knopf, sank nieder ins Erdgeschoss. Ging aus dem Haus wie jeden Morgen. Die gewohnten Geräusche umfingen sie. Sie lächelte versonnen als sie das Tuten des Bäckereiautos hörte.
„Wie immer?“, fragte Frau Scholz. Sie nickte, hielt den Euro hin, nahm den Croissant und biss herzhaft hinein. Auf dem Weg zum Zebrastreifen aß sie ihn auf, leckte sich die Finger ab und wischte verstohlen über ihren Mund. Ein doppeltes Tuten, sie winkte Frau Scholz fröhlich zu und ging hinüber in den Park.
Er sah noch einmal auf das kleine Foto, das der Informant ihm geschickt hatte. Eine dunkelblonde Frau, mittellange Haare. In den Augen lag etwas Undefinierbares, Lebendiges, Fragendes. Gleich würde Mammale erscheinen. So nannte er sie. Immer und alle. „Zielobjekt“ klang zu entwürdigend. Er kannte ihre Namen nicht und auch nicht den Grund für seinen Auftrag. Er fragte nicht danach, niemals. Die Geschichten schrieben andere. Er war nur für das Foto da. Von ihm hing es ab, ob die Welt weinte oder lachte, wenn sie Mammale sah. Vom Turm der Christuskirche schlug es Viertel nach Acht. Er trat einen winzigen Schritt vor.
Sie folgte gemächlich dem Plattenweg, vorbei am Eingang der Grundschule, in den eilige Kinderfüße trappelten. Es roch nach Kreide und Desinfektionsmittel. Sie lächelte und ging weiter. Die Welt veränderte sich, roch nach Flieder. Tief atmete sie ein und aus. Vom Turm der Christuskirche schlug es Viertel nach Acht. Sie war spät dran, beschleunigte ihre Schritte etwas. Sie hasste es, unpünktlich zu sein. Aufmerksam schritt sie voran. Etwas knackte. Sie blieb stehen und wandte das Gesicht nach links. Es roch nach Vanille.
Sie war zu spät. Er spürte, wie Unruhe in ihm hochstieg. Erneut trat er einen winzigen Schritt vor. Etwas knackte. Der verfluchte Ast! Er erstarrte. Da stand sie und sah ihn an, wandte den Kopf zurück und ging weiter. Er hatte den Augenblick verpasst. Hatte in ihre Augen gesehen statt den Auslöser zu drücken. Er musste sich besinnen, wo er war. Jetzt musste er improvisieren. Etwas, das er hasste wie die Pest.
Er trat auf den Plattenweg und folgte ihr mit stetem Abstand. Sie schien sich Zeit zu lassen. Er trat zurück an den Baumsaum und lief so schnell er konnte in ihre Richtung, überholte sie in weitem Bogen, war sich nicht bewusst, dass er keuchte. Er erreichte die Weggabelung und setzte sich auf die Bank. Würde sie fragen, würde er sagen, dass er die Vögel fotografierte. Er atmete aus, hob die Kamera. Sie kam direkt auf ihn zu.
Sie bemühte sich, schnell zu gehen, doch dann war der Plattenweg zu Ende und der Kies verlangsamte ihre Schritte erneut. Sie hörte etwas keuchen, lauschte nach links. Äste klatschten, Laub vom letzten Herbst knirschte. Kein Jogger würde den Baumsaum wählen. Das Geräusch entfernte sich von ihr. Doch etwas blieb. Ein Hauch von Vanille hing in der Luft. Sie zog die Stirn in Falten, zögerte, ging langsam weiter.
Er drückte ab, hörte das leise Geräusch der sich schließenden Blende. Sah sie an. Sie ging mitten auf dem Kiesweg, die Morgensonne schien eine Aureole um ihren Kopf zu zaubern. Dies war er, der eine Augenblick. Er drückte ab und wusste: er hatte es einfangen. Das Zirpen der Vögel, das Rascheln der Mäuse, den Geruch von Flieder, das fein gezeichnete Gesicht. Er drückte ab, wieder und wieder, während sie immer näher kam. Drückte ab, bis der Film voll war.
Ein Hauch von Vanille lag in der Luft. Etwas klickte leise, wieder und immer wieder. Sie ging darauf zu. Und je näher sie kam, desto deutlicher wurde ihr klar, dass dieses Klicken und der Hauch von Vanille zusammengehörten. Sie vergaß, dass sie erwartet wurde. Ging weiter geradeaus statt abzubiegen. Das Klicken verstummte, der Hauch von Vanille blieb.
Wie in Zeitlupe sah er den Stock auf sich zukommen. Der Schlag war nur leicht, doch traf er ihn unvorbereitet am Unterschenkel. Er erstarrte, sah sie ungläubig an. Der Stock traf seinen Knöchel. Er wagte nicht, sich zu bewegen, schluckte nur, schalt sich einen Narren, dass er die Deckung verlassen hatte.
Ihr Stock schlug gegen etwas. Erschrocken zog sie ihn zurück. Sie senkte ihn. Er schlug erneut gegen etwas. Etwas, das nach Vanille roch. Sie setzte sich, den Geruch rechts neben sich und wandte sich ihm entgegen. „Ich bin Sarah“, sagte sie leise. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht treffen.“ Ihr Gesicht war kurz vor dem seinen. Sie hielt den Kopf leicht geneigt, so als könne sie dann besser lauschen. „Darf ich Sie ansehen?“
„Schon okay“, krächzte es aus ihm heraus. „Nichts passiert“. Er sah sie an. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er spürte den Kloß in seiner Kehle, sah die toten Augen fragend blicken. Eine Hand berührte sein Gesicht, strich sanft und leise seine Wange entlang. Die zweite Hand berührte seine Brust, erforschte die Hasselblad. Er wagte nicht zu atmen, spürte eine Träne emporsteigen.
„Oh“, sagte sie. „Sie sind Künstler?“
Es war zu spät. Er strich die Telefonnummer seines Auftraggebers aus seinem Hirn. „Ja“, sagte er. „Ich bin Künstler. Ich hatte es nur vergessen.“
© Sylvie2day, 03.06.2012