Wir sind Gezeichnete
Wir sind Gezeichnete! Wann immer sie in eines der Gesichter ihrer alten Freunde schaute, der Menschen, die sie schon ein ganzes Leben lang begleiteten, musste sie diesen Satz denken.
Marie betrachtete Fotos. Letztes Wochenende waren sie bei der Hochzeit der Tochter aufgenommen worden. Die vielen jungen Leute strahlten in die Kamera. Sicher und voll Hoffnung war ihr Blick, und faltenfrei die Haut wie ihre erfolgreich gemeisterten Vergangenheiten.
Das waren schöne Gesichter, in die man gerne schaute.
Anders die Fotos der um die Fünfzig.
Da war ihre Freundin G aus Studienzeiten. In der Uni war sie eine der begehrsten Studentinnen gewesen: mädchenhaft, zierlich und mit vollem Busen. Drei Jahrzehnte später sah man ihr den Lebenskampf an: seit dreißig Jahren pflegte sie ihr behindertes Kind und arbeitete sich ab im steten Ringen um berufliche Anerkennung und dem Spagat zwischen mütterlicher Fürsorge und persönlicher Entwicklung.
Maries erster Ehemann C war immer der jungenhafte Typ gewesen: blonde Locken, Sommersprossen und ein charmantes Lächeln. Mit Vierzig noch hatte man ihm sein Alter kaum angesehen. Doch nun hatten die Jahre des Platzsuchens im Beruf und im Privatleben auch ihn gezeichnet: Falten der Bitterkeit zeugten von Misserfolgen und Verletzungen am Ego.
Oder O: seine braunen Augen hatten immer Stärke und Vertrauen ausgestrahlt. Der Schmerz dieses zweiten Exmanns nach der Trennung - der damals so groß war, dass er in soliden, mannshohen Quadern im Raum stand, um die herum sie nur sehr vorsichtig liefen, um nicht anzustoßen – zeigte sich nun als Bleibendes vor allem in seinem Blick. Auf einigen Fotos war darin etwas Verlorenes, wenn er in eine unbestimmte Ferne gerichtet war.
Und Marie selbst: ihr Strahlen, für das sie immer Komplimente bekommen hatte, wirkte nun auf den Fotos bemüht. Eine Maske, die sie tragen wollte, dem Anlass gemäß, die aber nicht ihrer inneren Befindlichkeit entsprach. Es gab mehr Fotos, bei denen sie fragend, besorgt fast, schaute, als sei es der Blick in eine Zukunft, die mehr Verlust als Gewinn versprach.
Nein, Fotos, die man gerne herumzeigte, waren das nicht.
Manch einer würde entsetzt auf die langen Falten neben dem Mund zeigen, die steil nach unten verliefen; das Grau, das sich im Haar breit machte; oder das Doppelkinn, das die einstige Energie in weichen Röllchen verschwimmen ließ.
Dennoch blickte Marie mit Zärtlichkeit auf diese Bilder: so waren sie eben. Sie hatten gelebt, geliebt, gekämpft – viel gewonnen und viel verloren. Dies Gesichter zeugten von reichen Leben und geprägten Persönlichkeiten - man konnte in ihnen ihre Geschichten lesen.
Das war gut so.
©tandocleo 2012