Wegstrecken
Ich war ca. 12 Jahre alt. In unserer Schulklasse gab es ein Mädchen. Sie war eher altmodisch gekleidet, hübsch, zurückhaltend, fast schüchtern. Irgendwann lud Sie mich zu sich nach Hause ein. Ihre Mutter öffnete die Türe, bat mich herein, wir durften in den Garten. Dort wurden wir von ihr mit Kakao und Kuchen versorgt. Die Mutter setzte sich zu uns und lies sich von uns über den vergangenen Schultag erzählen. Später spielten wir ein Gesellschaftsspiel zusammen mit ihr. Es war ein bezaubernder Nachmittag.
Am nächsten Tag bedankte ich mich nochmals bei dem Mädchen für den schönen Nachmittag. Ich hatte ihn sehr genossen! Da vertraute mir das Mädchen an, dass ihre „Übermutter“, wie sie diese nannte, sie mit diesen „Getue“ nerven würde! Nie wäre sie alleine, immer müsste sie sich einmischen, wenn Freunde kämen, das wäre ja schon richtig peinlich! Sie sagte, sie wäre wirklich neidisch auf die vielen Freiheiten, die ich hätte.
Ich schwieg betroffen, denn so eine Mutter hatte ich immer gewünscht! Eine, die sich kümmert, der man wichtig scheint, die Zuneigung gibt, die Zeit hat für kleine und große Sorgen ... die mich beschützt.
Nein, ich habe als Kind nicht hungern müssen, im Gegenteil. Ich hatte mehr als genug zu essen, Berge, auch zum Anziehen, viel mehr Spielzeug als mir wichtig war, ein Fahrrad, als das kaputt war gab es auch gleich ein Neues, einen Plattenspieler, später eine Stereoanlage und ich war die erste in unserer Klasse, die einen eigenen Fernseher bekam. Meine Eltern hatten ein eigenes Dienstleistungsunternehmen. Ich arbeitete von Kindesbeinen dort mit und verfügte auch deshalb schon in jungen Jahren über viel mehr Geld als Gleichaltrige. Ich war nett und freundlich zu den Kunden, zuvorkommend und hilfsbereit und ich bekam dafür ordentlich Trinkgeld, das ich behalten durfte. Was mir meine Mutter und mein Stiefvater nicht kauften, kaufte ich mir selbst. Mit 16 suchte ich mir einen gut bezahlten Job und mit 17 zog ich aus ... in meine erste eigene Mietwohnung, die ich selbst finanzierte. Damals platzten meine Freundinnen fast vor Neid ... die Wahrheit warum ich auszog ahnten sie nicht.
Als ich mit 22 J. meinen Sohn bekam und diesen bewusst allein großziehen wollte, konnte ich in der Anfangszeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten und so steckte ich urplötzlich in Mietschulden und war schließlich auf staatliche Unterstützung angewiesen. Ein Albtraum! Nicht nur, dass ich nun den Namen des Vaters nennen musste um für das Kind Sozialhilfe zu bekommen, ich musste auch aus meiner Wohnung raus (zu groß, zu teuer ...) und in ein Mütter-Wohnheim, in ein winziges Zimmer ziehen, mit Gemeinschaftsbad und Klo auf dem Flur. In dem Heim lauter Frauen mit „Vergangenheit“, aber auch ich hatte Vergangenheit ...
Mein Sohn war 9 Monate alt, als ich ihn und mich vom sozialen Abstellgleis in Richtung finanziell gesicherteres Leben zurückschubste. Die kurze Zeit als Sozialhilfeempfängerin hat mich sensibilisiert: Da will ich nie wieder landen!
Mein Ausflug in die Armut hat nur wenige Monate gedauert und es hat mich viel Kraft und Durchhaltevermögen gekostet da wieder rauszukommen. Es gab auch später Zeiten, da hatte ich am 15. nur noch 20,- DM und wusste nicht, wie ich das Kind satt bekommen sollte, doch ich schaffte es immer irgendwie dann doch.
„Wenn das Mehl alle war ...“ bin ich oft auch nicht ganz „hasenreine“ Wegstrecken gegangen, die ich jedoch immer wieder gehen würde ... für (m)ein mir anvertrautes, hilfloses, unschuldiges Kind!
Manchmal war es wie im Krieg ... und ich war eine Kriegerin!
Und manchmal kämpfe ich auch noch heute ... jedoch in einem anderen „Land“ ... und einem anderen Krieg!